Neue Studie zu den Zahlen der Toten in Gaza: 100 000
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Am vergangenen Montag veröffentlichte das Gesundheitsministerium in Gaza (GMoH) eine neue Liste der getöteten Personen in Gaza.
Die Chirurgin Dr. Victoria Rose, die erst vor kurzem von einem medizinischen Hilfseinsatz in Gaza nach Großbritannien zurückgekehrt ist, schreibt dazu am 1. Juli 2025:
„Ein Auszug aus der Zahl der Toten im Gazastreifen: Mahmoud Al-Maranakh und sieben weitere Kinder starben an dem Tag, an dem sie geboren wurden. Vier weitere Kinder wurden am Tag nach ihrer Geburt getötet, fünf weitere wurden nur zwei Tage alt. Erst auf Seite 11, nach 486 Namen, erscheint der Name des ersten Kindes, das älter als sechs Monate alt war, als es getötet wurde.
Die Namen der Kinder unter 18 Jahren erstrecken sich über 381 Seiten und umfassen insgesamt 17.121 Kinder.“
Die Vereinten Nationen stufen die Zahlen (so wie auch in der Vergangenheit) als glaubwürdig ein und stellten fest, dass seit dem 7. Oktober 2023
937 palästinensische Kinder im Alter zwischen 0 und 12 Monaten;
4 517 palästinensische Kinder zwischen 1 und 5 Jahren;
6 325 palästinensische Kinder zwischen 6 und 12 Jahren und
5432 palästinensische Kinder zwischen 13 und 17 Jahren von der israelischen Armee getötet wurden.
durchschnittlich alle 52 Minuten ein palästinensisches Kind getötet wird.
Am 16. Juni 2025 sprach UNICEF-Sprecher James Elder (zu diesem Zeitpunkt noch selbst in Gaza) in einem Interview mit UNICEF-Botschafterin Jemima Goldsmith über die Situation der Kinder in Gaza:
„Ich habe das, was ich hier sehe, noch nie zuvor gesehen, gehört oder erlebt, und die große Krise besteht darin, dass wir nicht in der Vergangenheitsform sprechen. Es wird immer schlimmer. Im wahrsten Sinne des Wortes, während Sie und ich sprechen.“
JG: „Sie haben es ausdrücklich einen Krieg gegen Kinder genannt. Würden Sie uns erklären, warum?“
„Ja, das ist wichtig, denn die UNICEF stützt sich bei solchen Aussagen auf Daten. Wir haben dies nach sechs Monaten gesagt. Noch nie zuvor haben wir so viele getötete oder verwundete Kinder gesehen, und jetzt sind wir bei mehr als 50 000. Das heißt, jede Aussage, die gemacht wird, verblasst angesichts der Realität.
Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem Gaza noch nie zuvor gewesen ist. Hier gibt es Entsalzungsanlagen und Pumpen, und der Strom wurde abgestellt. Israel hat den Strom gleich nach den Schrecken des 7. Oktobers abgestellt. Es geht also alles nur mit Treibstoff. Sie haben nun aber bereits seit über 100 Tagen die Einfuhr von Treibstoff nach Gaza verhindert. Wir sind also unter jedem Mindeststandard für Notfälle. Wenn wir keinen Treibstoff bekommen, werden wir bald sehen, wie Kinder verdursten.“
Insgesamt wurden laut der GMoH-Liste 56 500 Menschen getötet, 24 818 davon waren Männer, 17 121 Kinder, 9 126 Frauen und 4 137 alte Menschen. Durchschnittlich wurden seit dem 7. Oktober 2023 jeden Tag 90 Menschen in Gaza getötet.
133 419 Menschen sind verletzt, viele von ihnen werden aufgrund des kollabierten Gesundheitssystems und der Hungersnot ihre Verletzungen nicht überleben.
10 000e Menschen werden nach wie vor in den Trümmern vermisst.
Immer mehr Expert*innen stellen nicht nur fest, dass die Liste, bei all dem Horror, den sie repräsentiert, glaubwürdig ist, sondern sogar konservativ in Bezug auf die wahre Anzahl der Toten.
Eine am 23. Juni 2025 erschienene Studie namens Violent and Nonviolent Death Tolls for the Gaza War: New Primary Evidence präsentiert die Ergebnisse einer groß angelegten Haushaltserhebung, der Gaza Mortality Survey (GMS). Sie ist die bisher umfassendste und wissenschaftlich fundierteste Schätzung der kriegsbedingten Todesfälle in der Enklave.
Die Untersuchung wurde von einem internationalen Team von Wissenschaftler*innen unter der Leitung von Michael Spagat durchgeführt. Professor Michael Spagat ist Wirtschaftswissenschaftler am Holloway College der Universität London und weltweit anerkannter Experte für die Sterblichkeit in Gewaltkonflikten.
Spagat sagte, die Daten der Studie positionieren den Gaza-Krieg „als einen der blutigsten Konflikte des 21. Jahrhunderts“:
„Auch wenn die Gesamtzahl der Kriegsopfer in Syrien, der Ukraine und dem Sudan jeweils höher ist, steht Gaza offenbar an erster Stelle, was das Verhältnis von getöteten Kombattanten zu Zivilist*innen sowie die Todesrate im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße angeht.“
Die Daten zeigen auch, dass der Anteil der Frauen und Kinder, die in Gaza eines gewaltsamen Todes sterben, mehr als doppelt so hoch ist wie in fast allen anderen Konflikten der letzten Zeit, darunter Kosovo (20 %), Nordäthiopien (9 %), Syrien (20 %) und Sudan (23 %).
„Ich denke, dass wir wahrscheinlich bei etwa 4 Prozent der Bevölkerung liegen, die getötet wurden“, so Spagat. „Ich bin glaube nicht, dass es im 21. Jahrhundert einen anderen Fall gibt, der diesen Wert erreicht hat.“
Auf der Grundlage von persönlichen Interviews wurden für die Studie 2 000 Haushalte im Gazastreifen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, was einer Bevölkerungsstichprobe von 9 729 Personen entspricht. Die Daten wurden zwischen dem 30. Dezember 2024 und dem 5. Januar 2025 unter den Bedingungen von extremer Gewalt, Vertreibung und Belagerung erhoben. Das Palästinensische Zentrum für Politik- und Umfrageforschung leitete die Feldarbeit.
In der Studie wird die Zahl der Toten bis Anfang Jänner 2025 auf etwa 75 200 Menschen geschätzt, das GMoH weist für dieselbe Zeit rückwirkend 45 805 Tote auf, die tatsächliche Zahl dürfte laut Studie also etwa 60 Prozent höher liegen als vom Gesundheitsministerium festgestellt. Die „indirekten“ Todesfälle (auch silent death genannt), also Todesfälle, die auf Hunger, Krankheiten und den Zusammenbruch des Gesundheitssystems zurückzuführen sind, wurden in der Studie auf 8 540 geschätzt. Die Gesamtzahl der Todesopfer in Gaza zwischen Oktober 2023 und Anfang Jänner 2025 beläuft sich laut der Studie demnach auf knapp 84 000.
Nachdem in der Studie sechs Monate an Berechnung fehlen, muss von einer noch höheren Anzahl an Toten ausgegangen werden, die von Israel bewusst herbeigeführte Hungersnot und der Mangel an Medizin und adäquater medizinischer Versorgung könnte insbesondere die Zahl der indirekten Kriegstoten in die Höhe getrieben haben – der Journalist Nir Hasson bezifferte sie mit insgesamt 100 000.
Die erhobenen Zahlen stimmen mit den Berichten des GMoH überein und widerlegen die Behauptung, das Ministerium habe die Zahl der zivilen Opfer zu hoch angesetzt. Mehr noch, die Studie kommt zum eindeutig zum Schluß, dass das GMoH die Gesamtzahl der Todesopfer unterschätzt hat.
„Wenn das alles einmal vorbei ist“, so Professor Spagat, „dann braucht es ein riesiges Projekt, sicher ein Jahrzehnt lang, um wirklich zu rekonstruieren, was in Gaza alles geschehen ist.“

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Informationen entnommen aus:
Studie: Violent and Nonviolent Death Tolls for the Gaza War: New Primary Evidence
100,000 Dead: What We Know About Gaza's True Death Toll
Von Nir Hasson, Haaretz, 26. Juni 2025
UN: Palestinian Casualties
Die Todeszahlen aus Gaza dürften deutlich höher sein
Süddeutsche Zeitung, 29. Juni 2025
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