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Nur Tage nach der Unterzeichnung der „Waffenruhe“ in Gaza marschiert die israelische Armee in Jenin ein

Die israelische Führung deutet an, dass die Operation im Rahmen eines geheimen Abkommens während der Abstimmung über die Waffenruhe in Gaza geplant wurde.

Von Sharif Abdel Kouddos und Mariam Barghouti, 21. Jänner 2025


(Vollständiger Originalbeitrag in englischer Sprache)


Vorwort von Sharif Abdel Kouddos:

Weniger als 24 Stunden nach der Amtseinführung von Präsident Donald Trump haben die israelischen Streitkräfte eine nach eigenen Angaben groß angelegte Operation im besetzten Westjordanland eingeleitet, darunter eine groß angelegte Invasion in Jenin. Israelische Minister haben angedeutet, dass die Militäroperationen Teil einer Abmachung sind, die der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu mit seinem Kabinett getroffen hat, um es davon zu überzeugen, dem „Waffenstillstand“ in Gaza zuzustimmen.

Das von Trump ernannte nationale Sicherheitsteam und israelische Beamte haben das Gaza-Abkommen als etwas dargestellt, das Israel nicht einzuhalten gedenkt. Während Trump seine unbestreitbare Rolle bei der Erzwingung eines Abkommens gefeiert hat, hat er auch angedeutet, dass er nicht glaubt, dass das Abkommen Bestand haben wird. Gestern Abend gab er eine Reihe von Erklärungen zum Gaza-Streifen ab und sagte: „Das ist nicht unser Krieg, das ist ihr Krieg. Aber ich bin nicht zuversichtlich“ und fügte hinzu, dass der Gazastreifen ein ‚phänomenaler Ort am Meer‘ sei und dass ‚einige schöne Dinge damit gemacht werden könnten‘.

Während am Sonntag in Ramallah 90 palästinensische Gefangene im Rahmen des Austauschs von drei in Gaza festgehaltenen Israelis freigelassen wurden, sind allein in den letzten 24 Stunden über 90 Palästinenser im Westjordanland festgenommen worden. Unterdessen hat die Gewalt durch israelische Soldaten und Siedler seit Sonntag im gesamten Westjordanland zugenommen. Die Journalistin Mariam Barghouti berichtet aus dem Westjordanland und sprach während der israelischen Angriffe mit EinwohnerInnen in Jenin.

 

Israel hat am Dienstag (21.01.2025) eine groß angelegte Militäroperation gegen Jenin im besetzten Westjordanland eingeleitet und die Stadt mit Truppen, Militärfahrzeugen und Bulldozern überfallen, unterstützt von Luftangriffen, Drohnen und Apache-Hubschraubern. Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Ramallah wurden bei der Operation, die Israel als „Operation Eiserne Mauer“ bezeichnet hat, mindestens neun Palästinenser getötet und mehr als 40 verletzt.


Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu erklärte, das Ziel der „groß angelegten und bedeutenden Militäroperation“ sei es, „den Terrorismus in Jenin auszurotten“.

„Wir gehen systematisch und entschlossen gegen die iranische Achse vor, wo immer sie sich ausbreitet – ob im Gazastreifen, im Libanon, in Syrien, im Jemen oder in Judäa und Samaria [so bezeichnet Israel das besetzte Westjordanland, Anm.] – wir werden unsere Bemühungen fortsetzen“, schrieb Netanjahu in einem Beitrag auf X.


Israelische Soldaten stürmten am Dienstagnachmittag vom Militärkontrollpunkt Jamaleh aus die Stadt, nachdem eine Spezialeinheit in das Gebiet eingedrungen war, wie lokale Journalisten in Jenin berichteten. „Gegen 13.00 Uhr waren israelische Spezialeinheiten in der Nähe unseres Hauses westlich des Lagers, und es wurde heftig geschossen“, berichtet Susan Mahajneh, 35-jährige Bewohnerin des Lagers, gegenüber Drop Site News.


„Ich zog die Kinder an und wir machten uns auf den Weg nach draußen, denn die Gefahr im Lager wurde immer größer, scharfe Munition wurde abgefeuert, während Apache-Hubschrauber über uns kreisten“, so Mahajneh. „Ich trug meine Kinder auf dem Arm, während sie vor Angst weinten, und lief weiter in Richtung Ibn-Sina-Krankenhaus, um Sicherheit und Zuflucht zu finden.“ Mahajneh sucht jetzt Schutz bei einem Verwandten, der außerhalb des Lagers lebt. „Es war unglaublich schwierig zu fliehen, da die israelischen Streitkräfte in unsere Richtung schossen, um uns zurück ins Haus zu zwingen“, sagte sie, “aber ich weigerte mich und bestand darauf, dass wir gehen, damit ich meine Kinder vor dem, was noch kommen wird, schützen kann.“


AugenzeugInnen und ZivilistInnen im Lager berichten, dass die israelischen Streitkräfte das Flüchtlingslager von Jenin umzingelt haben und dass Scharfschützen auf jeden schießen, der versucht, das Lager zu verlassen. „Die Menschen haben versucht, während der israelischen Invasion aus dem Lager zu fliehen, aber nur wenige konnten entkommen. Andere sitzen an den Rändern des Lagers fest und können es nicht verlassen“, sagte Ahmad, ein 26-jähriger Bewohner des Lagers, gegenüber Drop Site, wobei er anonym bleiben wollte.


Während er sprach, ertönten im Hintergrund Explosionen und Schüsse. „Sie haben gerade das Gebiet, in dem wir uns befinden, mit einem Luftschlag angegriffen“, sagt er. Laut Ahmad war der zweite Luftangriff innerhalb von drei Stunden auf einen Bereich gerichtet, in dem Krankenwagen im Lager stationiert sind. Außerdem rissen israelische Bulldozer eine Reihe von Straßen in der Stadt auf und zerstörten sie.


Unter den von den israelischen Streitkräften am Dienstag getöteten Personen war auch ein Zivilist namens Abed Alwahhab Saadi. Auf im Internet veröffentlichten Aufnahmen ist er zu sehen, wie er unbewaffnet eine leere Straße entlanggeht, als er plötzlich unter Beschuss gerät und zu rennen beginnt, bevor er erschossen wird und mit dem Gesicht nach unten zu Boden fällt. Ein weiteres schockierendes Video zeigt, wie eine Familie während der Fahrt in ihrem Auto wiederholt unter Beschuss gerät und dabei Berichten zufolge ein weiterer Zivilist, Ahmed Nimer Obeidi, getötet wird.


Mindestens drei Ärzte und zwei Krankenpfleger wurden in den ersten zwei Stunden nach dem Einmarsch durch israelische Schüsse verletzt. Die israelischen Streitkräfte belagerten auch das Al-Amal-Krankenhaus in der Nähe des Lagers und feuerten mit scharfer Munition, während sie die Sanitäter daran hinderten, die Verletzten zu erreichen. Gleichzeitig berichteten BewohnerInnen, dass israelische Truppen überall in der Stadt Häuser von ZivilistInnen gewaltsam eingenommen und in behelfsmäßige Militärstellungen umgewandelt haben.

Um 17.00 Uhr am Dienstag hatte das israelische Militär den gesamten Bezirk Jenin zur militärischen Sperrzone erklärt und in mindestens sechzehn umliegenden Städten und Dörfern aktive Operationen durchgeführt.


Die Operation am Dienstag fand nur zwei Tage nach Beginn der „Waffenruhe“ im Gazastreifen statt, deren erste Phase sechs Wochen andauern soll. Israelischen Ministern und Medienberichten zufolge sind die Militäroperationen in Jenin und anderen Gebieten des Westjordanlandes Teil einer Vereinbarung, die Netanjahu mit seinem Kabinett vor der Waffenruhe im Gazastreifen getroffen hat.


Am Dienstag erklärte der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich, dass der israelische Angriff auf Jenin die „Sicherheitslage“ im Westjordanland verändern solle. „Nach dem Gazastreifen und dem Libanon haben wir heute mit Gottes Hilfe damit begonnen, das sicherheitspolitische Konzept auch in Judäa und Samaria zu ändern und eine Kampagne zur Ausrottung des Terrorismus in der Region zu starten“, so Smotrich in einem Beitrag auf X. Diese Operationen, fügte er hinzu, sei ein „Teil der Kriegsziele, die vom [Sicherheitskabinett] am Freitag auf Antrag der Partei des Religiösen Zionismus hinzugefügt wurden“, und bezog sich dabei auf die Kabinettsgespräche über den Waffenstillstand im Gazastreifen am vergangenen Wochenende. Außerdem bezeichnete er die Operation Eiserne Mauer als Teil einer Strategie zum Schutz der SiedlerInnen.


Die israelische Militäroperation in Jenin ist Teil eines umfassenderen Angriffs auf palästinensische Dörfer und Städte im gesamten Westjordanland. An dem Tag, an dem die „Waffenruhe“ im Gazastreifen in Kraft trat, führten israelische Sicherheitskräfte Angriffe in mehreren Städten im Westjordanland durch, schlossen Kontrollpunkte und richteten in anderen Gebieten „fliegende“ – oder neue – Checkpoints ein, während sie die Eingänge zu größeren Städten, darunter Ramallah und al-Khalil (Hebron), abriegelten. Aufgrund der israelischen Abriegelung konnten viele der 90 palästinensischen Gefangenen, die am Sonntag in Ramallah freigelassen wurden, nicht zu ihren Familien in verschiedenen Städten im Westjordanland zurückkehren.


Am Montag führte das israelische Militär einen Angriff in der Stadt Azzun im östlichen Qalqilya durch und verhaftete 64 Palästinenser, darunter auch Kinder. Im Internet veröffentlichte Aufnahmen zeigen, wie Männer und Jungen gezwungen werden, sich mit dem Gesicht nach unten auf die Straße zu legen, bevor sie in einer langen Reihe abtransportiert werden. In den letzten 24 Stunden wurden im Westjordanland über 90 Palästinenser festgenommen.

Israelische Siedler haben auch eine Reihe von Städten und Dörfern angegriffen, Häuser und Fahrzeuge von palästinensischen Familien in Brand gesetzt, Straßen blockiert und Steine geworfen. In Sebastia, Nablus, erschossen israelische Streitkräfte einen 14-jährigen palästinensischen Jungen.


In einer Erklärung vom Montag zeigte sich das UN-Menschenrechtsbüro „beunruhigt über eine neue Welle der Gewalt durch Siedler und israelische Soldaten im besetzten Westjordanland, die mit der Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens für den Gazastreifen und der Freilassung von Geiseln und Gefangenen zusammenfällt. Dies ging einher mit einer zunehmenden Einschränkung der Bewegungsfreiheit der PalästinenserInnen im gesamten Westjordanland, einschließlich der vollständigen Schließung einiger Checkpoints und der Errichtung neuer Tore, wodurch ganze Gemeinden faktisch eingeschlossen werden.“


Unterdessen hob US-Präsident Donald Trump in Washington die Sanktionen gegen eine Reihe israelischer SiedlerInnen im Westjordanland auf, indem er kurz nach seinem Amtsantritt eine Durchführungsverordnung erließ, um die von der Regierung Biden verhängten Maßnahmen aufzuheben.


Trump sagte auch, er sei nicht zuversichtlich, dass die Waffenstillstandsvereinbarung für den Gazastreifen halten werde. „Das ist nicht unser Krieg, es ist ihr Krieg. Aber ich bin nicht zuversichtlich“, sagte er aus dem Oval Office. „Ich habe mir ein Bild von Gaza angesehen – Gaza ist wie eine riesige Abrissbude. Dieser Ort muss wirklich auf eine andere Art und Weise wieder aufgebaut werden“, sagte er und fügte hinzu, dass der Gazastreifen ein ‚phänomenaler Ort am Meer‘ sei und dass ‚einige schöne Dinge damit gemacht werden könnten‘.

 

Mariam Barghouti ist Schriftstellerin und Journalistin und lebt im Westjordanland. Sie ist Mitglied des Marie Colvin Journalist Network.

Sharif Abdel Kouddous ist unabhängiger Journalist, acht Jahre lang war er als leitender Produzent, Co-Moderator und Korrespondent für die unabhängige Fernseh- und Radionachrichtensendung Democracy Now! tätig.




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