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Palästinenser*innen warnten vor einem Völkermord im Jahr 2023. Warum hat man uns nicht geglaubt?

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  • 4. Sept.
  • 7 Min. Lesezeit

Westliche Akademiker*innen sprechen nun mit neuer Autorität von „Völkermord“. Warum reichten unsere Stimmen nicht aus?

Von Ahmad Ibsais, The Guardian, 30.08.2025

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Heute habe ich mir wieder jene Kinder angesehen, die am 7. November 2023 vor den Kameras im Al-Shifa-Krankenhaus standen. Sie sprachen Englisch, nicht ihre Muttersprache, sondern die Sprache derer, von denen sie glaubten, dass sie sie retten könnten.


„Wir wollen leben, wir wollen Frieden, wir wollen die Mörder von Kindern vor Gericht stellen“, sagte ein Junge. „Wir wollen Medikamente, Nahrung und Bildung. Wir wollen so leben wie andere Kinder auch.“

Schon damals flehten die Kinder. Schon damals hatten sie kein sauberes Trinkwasser, keine Nahrung, keine Medikamente.


Jetzt, 21 Monate später, wo sich 60 000 bestätigte palästinensische Leichen stapeln oder in Massengräbern liegen und unabhängige Schätzungen von über 100 000 Toten sprechen, ist etwas passiert. Plötzlich finden dieselben Institutionen, die monatelang darüber debattiert oder sogar aktiv geleugnet haben, dass palästinensische Zeugenaussagen glaubwürdig sind, ihre Stimme.


Westliche Wissenschaftler*innen sprechen mit neu gewonnener Autorität von „Völkermord“. Zwei israelische Menschenrechtsorganisationen veröffentlichten Berichte, in denen sie das bestätigten, was Palästinenser*innen seit Oktober 2023 unter den Trümmern herausgeschrien haben. Sie bezeichnen sich als „Expert*innen“, aber sie brauchten zwei Jahre, um zu erkennen, was sich schon immer vor ihren Augen abspielte: dass ein Himmel, der Bomben abwirft, niemals nach Geiseln gesucht hat.


Warum reichten unsere Leichen nicht aus? Was macht den Tod von Palästinenser*innen für diejenigen, die unser Gemetzel in Echtzeit miterleben, so durchweg unglaubwürdig? Was ist es an unserem Atem, unserem Blut, unseren Körpern, das sie so leicht anzuzweifeln, so leicht abzutun, so leicht zu zerstören macht? Es sind nicht die Augen, die blind sind, sondern die Herzen.


Die Antwort liegt nicht in unserem Tod, sondern darin, wie wir von dem Moment an, in dem wir unseren ersten Atemzug tun, als nicht menschlich konstruiert werden. Die Entmenschlichung der Palästinenser ist philosophisch, bewusst und für das Kolonialprojekt unerlässlich. Wir müssen zu etwas anderem als Menschen gemacht werden, damit unsere Auslöschung zu notwendiger Gewalt wird. Der Kolonisator verlangt, dass die Kolonisierten Bestien sind, damit es human erscheint, uns einzusperren, und gerechtfertigt, uns zu töten.


Dieselbe Entmenschlichung ermöglicht es den Medien, den Völkermord an den Palästinenser*innen in den Kontext des 7. Oktober 2023 zu stellen, so zu tun, als hätte die Geschichte vor zwei Jahren begonnen, aber den 7. Oktober niemals in den Kontext von 77 Jahren kolonialer Enteignung und 17 Jahren vollständiger Belagerung zu stellen. Als palästinensische Expert*innen im Fernsehen auftraten und sagten, dies sei Völkermord, wurden sie beschimpft, angegriffen und abgewiesen. Jetzt scheint es, als könnten nur Nicht-Palästinenser*innen von Völkermord sprechen, als wären sie mutig, als wären wir Palästinenser*innen nicht entlassen, bloßgestellt und inhaftiert worden, weil wir unsere Mörder als böse bezeichnet haben. Vielleicht wollten sie Lobeshymnen für die Soldaten, die unsere Kinder ermordet haben?


Christiane Amanpour [eine bekannte britisch-iranische Journalistin und Moderatorin, Anm.] und andere wie sie sprechen erst dann von ihrer Erleuchtung über den Völkermord, nachdem der israelische Schriftsteller David Grossman zu der traurigen Erkenntnis gelangt ist, dass Israel Völkermord begeht. Palästinenser*innen dürfen nur erzählen, wenn sie von Autoritäten begleitet werden. Aber ich erkenne keine Autorität an, die keine 22 000-Pfund-Bomben spüren kann, die 670 Tage lang jeden Tag ein Klassenzimmer voller Kinder getötet haben.


Wie heilig ihre Sorge jetzt klingt, über einem Land, das von Lebenden gesäubert wurde.

Diese neu entdeckten Expert*innen, dieselben Stimmen, die 21 Monate lang darüber debattierten, ob das Beobachten von Massenmorden einen Beweis für Massenmorde darstellt, sprechen nun mit solcher Autorität über unser Leiden. Aber selbst die israelische Bestätigung enthält Hintertüren. Als B'Tselem schließlich seinen Bericht mit dem Titel „Unser Völkermord“ veröffentlichte, umschrieb die Organisation auf 88 Seiten die rechtliche Definition, die sie angeblich akzeptierte. Sie räumte Völkermordhandlungen ein, vermied jedoch die Frage nach der Völkermordabsicht, also genau dem Element, das Völkermord rechtlich strafbar macht. Haben sie vergessen, dass Netanjahu uns mit Amalek verglichen hat? Dass er unseren biblischen Tod gefordert hat?


Die Medien haben diesen Völkermord von Anfang an ermöglicht. Als israelische Politiker*innen verkündeten, sie hätten „40 enthauptete Babys“ gesehen, und die Welt sich auf einen Krieg zubewegte, waren weder Fotos noch eine Überprüfung erforderlich. Der ehemalige US-Präsident Joe Biden wiederholte diese Blutverleumdung mehrfach, selbst nachdem seine eigenen Mitarbeiter*innen zugegeben hatten, dass er solche Bilder nie gesehen hatte. Das Weiße Haus ruderte zweimal zurück. Haaretz recherchierte und fand heraus, dass am 7. Oktober nur ein Säugling ums Leben gekommen war, erschossen, nicht enthauptet. Aber die Lüge hatte sich bereits um die ganze Welt verbreitet, während die palästinensische Wahrheit noch um Gehör rang.


Als Israel im April 2024 sieben Mitarbeiter*innen der Hilfsorganisation World Central Kitchen tötete, indem es ihre deutlich gekennzeichneten Fahrzeuge in drei separaten Angriffen präzise traf, nannte es dies einen „unbeabsichtigten Fehler”. Als es systematisch über 200 Journalist*innen ermordete, mehr als in jedem anderen Krieg in der Geschichte, wurde jeder Tod als unglücklicher Unfall bezeichnet. Als Israel die weltweit höchste Anzahl an amputierten Kindern verursachte, wurde auch dies als unbeabsichtigte Folge dargestellt.

Das Muster ändert sich nie. Israel begeht ein Kriegsverbrechen, verspricht, selbst Ermittlungen durchzuführen, und kommt Monate später stillschweigend zu dem Schluss, dass die Verfahren korrekt befolgt wurden. Dennoch erwartet die Welt von uns, dass wir vergeben und vergessen.


Bis vor kurzem präsentierte Piers Morgan [ein bekannter britischer Reporter und Moderator, Anm.] palästinensische Fürsprecher auf seiner Bühne, einem Gerichtssaal, in dem die Unterdrückten immer vor Gericht stehen. Er stellte jedem Gast die gleiche einstudierte Frage: „Verurteilen Sie die Hamas?“ In diesem Moment wurde jedem Palästinenser und jeder Palästinenserin ihre Trauer genommen und sie wurden in eine Haltung der Entschuldigung gezwungen.


Die Folgefrage ist ebenso vorhersehbar: „Hat Israel das Recht, sich zu verteidigen?“ Der Besatzer, so wird uns gesagt, hat ein heiliges Recht auf Gewalt. Die Besetzten müssen sich das Recht auf Trauer erst verdienen. Israels sogenannte „Verteidigung“ wird nie hinterfragt, obwohl das Völkerrecht einer Besatzungsmacht kein solches Recht gegenüber dem besetzten Volk einräumt.


Das Völkerrecht ist eindeutig, wenn es sich an seine eigene Sprache erinnert. Es bekräftigt das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung und verankert in der UN-Resolution 3236 das Recht, sich mit „allen notwendigen Mitteln“ gegen die Besatzung zu wehren. Anscheinend gelten diese Gesetze jedoch nicht für palästinensisches Leben.


Israel hat gegen alle Grundsätze des Völkerrechts verstoßen: das Verbot der Apartheid, das Verbrechen der Zwangsumsiedlung, die Zerstörung von Kulturgütern, die gezielte Bekämpfung von Zivilist*innen, den Einsatz von Hunger als Kriegswaffe. Und nun Völkermord, das schwerste Verbrechen überhaupt. Die westlichen Regierungen erwarten von uns, dass wir diese Realität nicht anerkennen, vielleicht weil sie gesehen haben, dass die Welt nicht schnell genug reagiert hat, um diesen Völkermord zu stoppen, und sie wissen, dass sie ihn wieder begehen können.


Die Analyse von The Intercept von über 1 000 Artikeln aus großen Zeitungen in den ersten sechs Wochen nach dem 7. Oktober 2023 zeigt den systematischen Charakter der Entmenschlichung. Eine humanisierende Sprache wurde fast ausschließlich für das Leiden der Israelis verwendet: „Gemetzel“ erschien im Verhältnis 60:1 zugunsten der israelischen Todesopfer gegenüber den palästinensischen, „Massaker“ im Verhältnis 125:2 und „schrecklich“ im Verhältnis 36:4. Dies war eine systematische Vorbereitung auf den Völkermord, die bewusste Ermordung der Sprache selbst.


Edward Said hat dies bereits vor Jahrzehnten verstanden. In „Permission to Narrate“ zeigte er, wie den Palästinenser*innen das Recht genommen wird, ihre eigene Geschichte zu erzählen, wie ihre Stimmen durch die Brille derer gefiltert werden, die sie loswerden wollen. Said wusste, dass es nie darum ging, ob die Palästinenser*innen sprechen konnten – sie haben immer gesprochen. Die Frage war, wer zuhören durfte und unter welchen Bedingungen ihre Worte als glaubwürdig angesehen wurden.


Aber ich verstehe jetzt, warum sich der Diskurs verschiebt, warum Völkermord nach so viel Tod plötzlich aussprechbar wird. Nicht weil palästinensische Stimmen an Glaubwürdigkeit gewonnen haben, sondern weil der Tod der Palästinenser*innen eine Form erreicht hat, die das westliche Menschenbild verarbeiten kann. Hunger lässt sich besser fotografieren als Bomben oder die Kugel eines Scharfschützen in der Brust eines Kindes. Ausgemergelte Kinder wecken Mitgefühl, das zerquetschte Leichen niemals hervorrufen können. Man kann um unsere Leichen trauern, ohne sich mit den Systemen auseinanderzusetzen, die sie hervorgebracht haben. So können westliche Nationen akzeptabel Besorgnis über die Hungersnot in Gaza vortäuschen, als hätten palästinensische Mütter nicht seit über einem Jahr ihre sterbenden Kinder in Krankenhäuser gebracht. Und plötzlich können Politiker*innen eine bedingte Anerkennung der palästinensischen Staatlichkeit anbieten, aber nur, wenn wir versprechen, für immer wehrlos zu bleiben. Sie bevorzugen uns als Märtyrer*innen, weil Märtyrer*innen keine Forderungen nach Befreiung stellen.

Dieser performative Wandel ist nicht auf ein moralisches Erwachen zurückzuführen, sondern auf kalkulierte Sicherheit. Hungersnot klingt nach Unglück, Völkermord klingt nach Schuld. Hungersnot ermöglicht es ihnen, Hilfe zu leisten, ohne Schaden einzugestehen, öffentlich zu trauern, ohne die Verursacher zu benennen. Sie können Entsetzen ausdrücken und gleichzeitig die Wahrheit verschleiern, dass westliche Bomben fast ganz Gaza zerstört haben.


Selbst wenn die Beweise unbestreitbar werden, passen sie sich an. Als Fotos des 18 Monate alten Mohammed al-Mutawaq, der aufgrund von Unterernährung nur noch Haut und Knochen war, viral gingen, fanden pro-israelische Stimmen neue Wege, um das Leiden der Palästinenser*innen abzutun. Als bekannt wurde, dass das Kind an Zerebralparese leidet, erklärten Kolumnist*innen die Hungersnot-Erzählung für „eine Lüge” und bezeichneten solche Bilder als „Propaganda”.


Als ob das Aushungern eines zum Tode verurteilten Kindes die Gewalt rechtfertigen würde?

Aber die New York Times, die schnell bereit war, die Hungersnot eines palästinensischen Kindes aufgrund einer Vorerkrankung zu korrigieren, ließ ihren Bericht „Screams Without Words” über 500 Tage lang unkorrigiert und trug damit dazu bei, die Unterstützung der Bevölkerung für den Völkermord zu gewinnen. [Im Dezember 2023 beschrieb eine Untersuchung der New York Times mit dem Titel „‚Screams Without Words‘: How Hamas Weaponized Sexual Violence on Oct. 7“ (Schreie ohne Worte: Wie die Hamas sexuelle Gewalt am 7. Oktober als Waffe einsetzte) Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt und bezeichnete diese Gewalt als von der Hamas „als Waffe eingesetzt“. Der redaktionelle Prozess hinter dem Artikel wurde nach dem Erscheinen stark kritisiert, so wurden Bedenken hinsichtlich des Einsatzes unerfahrener Reporter*innen, einer übermäßigen Abhängigkeit von Zeugenaussagen, schwacher Bestätigung und fehlender forensischer Beweise geäußert.]


Aber die Stimmen der Palästinenser*innen setzen sich nicht trotz der Unterdrückung durch, sondern weil wir uns weigern zu akzeptieren, dass manche Geschichten nicht erzählt, manche Toten nicht betrauert und manche Wahrheiten nicht ausgesprochen werden dürfen. Diejenigen, die noch atmen, werden die Wahrheit sagen, für die andere mit ihrem Leben bezahlt haben: dass palästinensisches Blut die Erde unserer Heimat tränkt, dass unser Widerstand mit jedem Grab, das sie schaufeln, wächst, dass unsere Befreiung nicht durch ihre Genugtuung mit dem Ende der Nakba verzögert werden kann. Wenn Sie den Palästinenser*innen jetzt zuhören wollen, respektieren Sie unsere Forderung: sofortige Sanktionen gegen Israel, Stopp des Verkaufs und des Flusses von Waffen, die weiterhin töten, und Respektierung des palästinensischen Rechts auf Selbstbestimmung.


Die Kinder im Al-Shifa-Krankenhaus haben verstanden, was die Welt nicht sehen will. Viele von ihnen sind wahrscheinlich inzwischen begraben, getötet von denselben Kräften, die ihre Aussagen als Propaganda abgetan haben. Und dennoch ist die einzige Frage, die ihren Leichen gestellt werden könnte, ob sie die Hamas verurteilt haben, bevor Israel sie getötet hat.

 

Ahmad Ibsais ist ein palästinensisch-amerikanischer Jurastudent und Dichter, der den Newsletter „State of Siege“ verfasst. (https://ahmadibsais.substack.com/)


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