Im Oktober 2023 konnte ich mir nichts Schlimmeres vorstellen als die Zerstörung im Flüchtlingslager Jabalia. Aber was jetzt passiert, übertrifft alles, was ich dort gesehen habe.
Von Mosab Abu Toha, The New Yorker, 31. Jänner 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache und mit Paywall)
Wenn ich das arabische Wort mukhayyam, also Lager, höre, denke ich sofort an das Flüchtlingslager Jabalia im Norden des Gazastreifens. Ich wurde im Flüchtlingslager Al-Shati geboren, das ein paar Kilometer entfernt liegt, aber in Jabalia wurden meine Großeltern mütterlicherseits geboren, wuchsen dort auf und bekamen meine Mutter. Es ist das größte der Gaza-Flüchtlingslager, ein Ort, den mehr als hunderttausend Menschen ihr Zuhause nennen, und wo im Laufe der Zeit die improvisierten Unterkünfte zu einer dichten Ansammlung von Betonbauten heranwuchsen, die sich mit den zusätzlich benötigten Zimmern und Stockwerken der Familien vergrößerten. Ich bin in Jabalia von der fünften bis zur neunten Klasse zur Schule gegangen. Freitags ging ich dort mit meiner Mutter und später mit meiner Frau einkaufen.
Als Junge erlebte ich, wie sich eine schmale Straße im Lager in eine Art provisorisches Café verwandeln konnte. An einem Sommernachmittag holte jemand einen Stuhl heraus, um der Hitze und Luftfeuchtigkeit im Haus zu entkommen. Ein anderer Nachbar gesellte sich dazu. Bald saßen ein Dutzend Menschen auf der Straße und unterhielten sich über Arbeit, Fußball, Essen, Grenzübergänge und Familie. Jeder redete wie ein politischer Analyst, ein Sportkommentator oder ein Restaurantkritiker. Die Kinder saßen auf den aus Kartons ausgeschnittenen Quadraten und hörten zu.
Die Eltern meiner Mutter wohnten in der Hawaja-Straße, nur fünfundzwanzig Gehminuten von unserem Haus in Beit Lahia entfernt. Auf dem Weg zu ihnen kamen wir immer an einem Mülleimer vorbei, der so groß war, dass die Leute ihn „das Schiff“ nannten. Ihr Haus hatte zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und einen Abstellraum, in dem sich ein Sack Weizenmehl und eine Matratze für Gäste wie mich befanden. Die Küche war kleiner als ein Schlafzimmer und hatte keinen Tisch, also aßen wir unsere Mahlzeiten auf dem Fußboden des Wohnzimmers, wobei unser Kauen von den Geräuschen der vorbeischlurfenden Menschen übertönt wurde.
In Jabalia war fast jede Wand mit Graffitis bemalt. Ich erinnere mich an Witze, Nachrichten, Telefonnummern von Kochgasanbietern und die Namen von Menschen, die bei israelischen Angriffen getötet wurden. Einmal sah ich einen düsteren Witz: „Neighborhood for Sale“. Wenn ein großes Fußballspiel stattfand, leerten sich die Straßen und Geschäfte. Jedes Café mit einem Fernseher füllte sich mit Palästinensern jeden Alters. Wenn man nicht zuschaute, wusste man trotzdem, dass ein Tor gefallen war, weil das Stimmengewirr an Fenstern und Türen rüttelte. Das Besondere am Leben im Lager war, dass wir unsere eigenen Gründe zum Feiern schufen, auch wenn sie nicht von Dauer waren.
Nach dem 7. Oktober 2023 musste meine Familie vor den israelischen Angriffen in Beit Lahia fliehen und in die Wohnung eines Verwandten in Jabalia ziehen. Wir fühlten uns alle wie Flüchtlinge, aber der alte Geist des Lagers war noch lebendig. Am 28. Oktober saß ich auf der Straße, als ich hörte, wie ein Junge einem anderen erzählte, dass Real Madrid Barcelona mit 2:1 besiegt hatte. Sie waren wahrscheinlich in der siebten Klasse. Am selben Tag zerstörte ein Luftangriff das Haus, das wir zurückgelassen hatten.
Israel führte auch Angriffe auf das Lager durch. Am Nachmittag des 31. Oktober hörten wir Explosionen, und mein Vater rief uns zu, wir sollten uns in der Wohnung verteilen. Nachdem meine Kinder aufgehört hatten zu schreien, ging ich auf die Straße hinaus. Ich sah zwei Männer, die einen kopflosen Körper trugen. Mit meinem Handy filmte ich einen Ersthelfer, der verzweifelt versuchte, ein junges Mädchen wiederzubeleben. Ein Mädchen im Teenageralter weinte: „Mein Auge!“ Dann bot sich mir ein Bild der Hölle – ein Gebiet von mindestens siebenundzwanzigtausend Quadratfuß [entspricht 2500m2, Anm.], das in Flammen stand. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine solche Verwüstung gesehen. Als ich zu meiner Familie zurückkehrte, sagte ich zu ihnen: „So eine Zerstörung kann es nicht nochmal geben.“ Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen.
Was jetzt in Jabalia geschieht, übertrifft jedoch alles, was ich dort gesehen habe. Gebäude, die bereits bombardiert wurden, werden erneut bombardiert. Es ist, als würden sich die israelischen Streitkräfte an dem Lager selbst rächen, indem sie es ausradieren. Auf vielen Fotos sieht das Lager wie eine Mülldeponie aus. Es sind keine Menschen mehr zu sehen.
Kürzlich scrollte ich durch einen hebräischsprachigen Telegram-Account, der seine Nachrichten als „Sicherheitsupdates“ bezeichnet. In einem Video dreht sich die Kamera im Kreis und zeigt einen Dreihundertundsechzig-Grad-Blick auf zerbrochenen Beton und zerstörte Gebäude. Eine Stimme, die auf Hebräisch spricht, sagt das Wort „Jabalia“. Die wenigen Gebäude, die noch stehen, sehen nicht bewohnbar aus.
Ein anderes Video, das offenbar von einer Drohne gefilmt wurde, zeigt ein Trümmerfeld von oben. Eine Explosion erschüttert die Kamera, und zwei skelettartige Gebäude – die einzigen, die auf dem gesamten Gelände zu sehen sind – stürzen in einer Pilzwolke ein. In den sozialen Medien hatte jemand einen Screenshot gemacht und ihn mit arabischen Ortsnamen beschriftet. Ich kannte die gesamte Nachbarschaft. Ich konnte den Standort von Maysara erkennen, einem Elektronikgeschäft, in dem ich immer meinen drahtlosen Router warten ließ. In der Mitte des Fotos befindet sich die Hawaja-Straße, in der meine Großeltern einst lebten.
Lange Zeit habe ich mich gefragt, was meine Großeltern väterlicherseits, Hasan und Khadra, 1948 erlebten, als die zionistischen Milizen sie aus ihren Häusern in Jaffa vertrieben. Hatten sie, nachdem sie in das neu gegründete Flüchtlingslager Al-Shati am Mittelmeer umgezogen waren, einen Koffer gepackt, um auf den Tag der Rückkehr in ihre Heimat vorbereitet zu sein? Wie viele Wochen oder Jahre dauerte es, bis sie endgültig alles auspackten und erkannten, dass Al-Shati nun ihr Zuhause war? Mein Vater, seine Geschwister und die meisten meiner Geschwister wurden dort geboren. Als Hasan und Khadra Jahrzehnte später starben, wurden sie auf einem nahe gelegenen Friedhof begraben.
Was wäre, wenn Hasan und Khadra hätten filmen können, was mit ihren Häusern in Jaffa geschah? Was wäre, wenn sie Filmaufnahmen von ihrer Reise nach Gaza und dem Beginn ihres Lebens im Lager gehabt hätten? Hätten die PalästinenserInnen den Beginn der Katastrophe, in der wir noch immer leben, per Live-Stream übertragen, hätte sie verhindert werden können? Was wurde aus ihrem Haus und dem Maulbeerbaum in ihrem Garten? Ich habe keine Antworten auf diese Fragen. Aber im Jahr 2024 hatte ich das Gefühl, dass ich meine Großeltern zu verstehen begann.
Vor ein paar Jahren waren siebzig Prozent der BewohnerInnen des Gazastreifens Flüchtlinge. Im Jahr 2024 meldete die UNO, dass neunzig Prozent der BewohnerInnen des Gazastreifens vertrieben worden sind. Alle Universitäten des Gazastreifens sind verschwunden. Etwa fünfundneunzig Prozent der Schulen wurden beschädigt oder zerstört. Ganze Stadtteile werden dabei gefilmt, wie sie in die Luft gesprengt werden. Das Haus einer meiner Tanten am Rande von Jabalia wurde von einem Luftangriff getroffen, bei dem sechzehn Verwandte, darunter eine ihrer Töchter, getötet wurden. Die Schwester meiner Großmutter, Um Hani, die ich Sitti oder Omi nannte, wurde ebenfalls getötet. Ihre Leiche liegt noch immer unter den Trümmern.
Die Familie meiner Frau ist in ein Fußballstadion in Gaza-Stadt umgezogen, wo sie in Zelten leben, ohne genügend Kleidung oder Bettzeug für die kalten Winterbedingungen. Mein Vater und einige meiner Geschwister sind im nördlichen Gazastreifen. Meine Mutter ist mit einer meiner Schwestern, die krank ist, in Katar. Meine Frau, meine Kinder und ich haben den Gazastreifen im Dezember 2023 verlassen und befinden uns jetzt fast sechstausend Meilen entfernt in Syracuse, New York. Wir mussten alle aus Flüchtlingslagern fliehen, um Zuflucht zu finden, und sind somit von jenen Orten, an denen unsere Großeltern einst lebten, doppelt entfernt. Mehr als ein Jahr nach dem 7. Oktober gibt es in Jabalia kaum noch Familien. Es gibt kaum Straßen, auf denen man sich versammeln kann, und kaum Stühle, auf denen man sitzen kann.
Im Jahr 2023 konnte ich trotz all des Grauens um mich herum mit der Verwüstung im Lager Jabalia leben. In Gaza gab es noch Kindergärten, Hochschulen und Kliniken, auch wenn auch sie zu Bunkern und angegriffen wurden. Die Hoffnung auf die Rückkehr zu einem einigermaßen normalen Leben nach einem Waffenstillstand, auf den wir so lange gewartet hatten, schwand nie. Wir sagten uns immer wieder: „Es wird vorübergehen“. Ich habe nie vergessen, wie neun Jahre zuvor ein Luftangriff das Haus unseres Nachbarn dem Erdboden gleichgemacht und Wände in unseren Schlafzimmern herausgesprengt hatte. Wir hatten einen kalten Winter überlebt, waren in unserem Haus geblieben und hatten neue Wände gebaut.
Ich habe jetzt weniger Hoffnung. Ich hoffe nicht, dass wir zu einem normalen Leben zurückkehren oder an diese Orte zurückkehren können, wie sie vorher waren. Das Einzige, das noch zählt, ist, dass die Menschen, die mir wichtig sind, überleben, damit ich sie wiedersehen kann.
Am Morgen des 19. Dezember kam die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, die in die Fußstapfen von Amnesty International getreten war, in einem akribischen Bericht zu dem Schluss, dass Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht. Später an diesem Tag sah ich mir die aktuellen Satellitenfotos von Jabalia in der Haaretz und im Guardian an. Auf meinem iPad suchte ich nach denselben Orten auf Google Maps, wo das Lager so gezeigt wurde, wie es früher einmal war. Auf beiden Fotosätzen, vorher und nachher, erkannte ich das Regenwasserauffangbecken von Abu Rashed, an dem ich auf dem Weg zum Haus meiner Großeltern immer vorbeikam. Ich folgte vertrauten Straßen bis zum Khadamat Jabalia Club, wo ich mit Arbeitskollegen und Freunden Fußball spielte und wo die Leute unsere Spiele von ihren Fenstern aus beobachteten. Ich fand den Friedhof von Falouja, auf dem wir einige meiner Tanten und Onkel begraben haben.
Auf den neuen Fotos konnte ich kaum mehr als Schutthaufen erkennen, die durch den Staub verschwommen waren, der wahrscheinlich von den ständigen Bombardierungen stammte. Es gab keine Grünflächen, keine Fußballfelder, keine bunten Gebäude oder Dächer. Nur die Straßen und Lichtungen waren zu erkennen. Ich sah mir die Fotos immer wieder an, und in meinem Kopf entstand das Bild eines Friedhofs, der immer größer wird.
Eine der Schwestern meiner Mutter, meine Tante Iesha, lebte im Lager Jabalia und half mir, Englisch zu lernen. Sie wurde in dem Haus in der Hawaja Street geboren, und als sie heiratete, und zwar einen Mann, der ebenfalls aus Jabalia stammte, zog sie in ein anderes Haus im Lager. Sie verließ das Lager nur, wenn sie musste. Diesen Monat habe ich Tante Iesha eine Nachricht geschickt und sie gefragt, was sie an Jabalia vermisst. „Es ist schwer, ohne seine Nachbarn zu leben“, schrieb sie. „Schwer zu leben, ohne all die Gebäude meines Lagers zu sehen, mit denen ich Erinnerungen verbinde.“
Ich fragte sie, wie sie sich das Lager nach einem Waffenstillstand vorstellen würde. „Das erste Jahr ist so schwer vorstellbar“, sagte sie mir. „Wenn es tatsächlich so sein wird ...“ Wenn dieser Tag kommt, so sagt sie, hofft sie, in das Haus zu gehen, in dem sie aufgewachsen ist, und das Grab ihres Vaters – meines Großvaters – zu besuchen, der 2024 verstorben ist. Wir können das Lager wieder aufbauen, schrieb sie, aber nicht so, wie es war. Ich muss immer wieder an eine Zeile denken, die dem palästinensischen Dichter Mahmoud Darwish zugeschrieben wird. Ich kann die Originalquelle nicht finden, aber die Worte sind für die PalästinenserInnen zu einer Art Sprichwort geworden: „Wenn sie dir die alten Cafés zurückbringen, wer wird dir dann die alten Freunde zurückbringen?“
Mosab Abu Toha (*1992) ist ein palästinensischer Schriftsteller, Dichter, Wissenschaftler und Bibliothekar aus dem Gaza-Streifen. Sein erster Gedichtband Things You May Find Hidden in My Ear (2022) wurde mit dem Palestine Book Award und einem American Book Award ausgezeichnet. Es war außerdem Finalist für den National Book Critics Circle Award und den Walcott Poetry Prize. Abu Toha ist der Gründer der Edward Said Library, der ersten englischsprachigen Bibliothek in Gaza. Er wurde im November 2023 von der israelischen Armee verhaftet, als er mit seiner Familie nach Ägypten fliehen wollte. Er wurde später freigelassen, nachdem er gefoltert worden war, und arbeitet seither als Chronist des Krieges aus der Ferne.

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