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Scholastizid und Domizid in Gaza


„Wenn Schulen zerstört werden, dann werden auch Hoffnungen und Träume zerstört.“


UN-Expert*innen äußerten in einer Presseaussendung am 18. April 2024 große Besorgnis über die Angriffe auf Schulen, Universitäten, Lehrkräfte und Studierende im Gazastreifen und schlugen Großalarm über die systematische Zerstörung des palästinensischen Bildungssystems.


Angesichts der Tatsache, dass mehr als 80 % der Schulen im Gazastreifen beschädigt oder zerstört sind, stellt sich die Frage, ob das palästinensische Bildungssystem absichtlich zerstört werden soll, was als "Scholastizid" bezeichnet wird", so die ExpertInnen.


Der Begriff bezieht sich auf die systematische Auslöschung des Bildungswesens durch die Verhaftung, Inhaftierung oder Tötung von LehrerInnen, SchülerInnen und MitarbeiterInnen sowie die Zerstörung der Bildungsinfrastruktur.


Nach sechs Monaten militärischer Angriffe wurden im Gazastreifen mehr als 5 479 StudentInnen, 261 LehrerInnen und 95 UniversitätsprofessorInnen getötet und mehr als 7 819 Studenten und 756 Lehrer verletzt - und die Zahl steigt von Tag zu Tag.


Mindestens 60 Prozent der Bildungseinrichtungen, darunter 13 öffentliche Bibliotheken, wurden beschädigt oder zerstört, und mindestens 625 000 Schüler haben keinen Zugang zu Bildung. Weitere 195 historische Stätten, 227 Moscheen und drei Kirchen wurden ebenfalls beschädigt oder zerstört, darunter das Zentralarchiv von Gaza, das 150 Jahre Geschichte beherbergt hatte.


Die Israa-Universität, die letzte verbliebene Universität in Gaza, wurde am 17. Januar 2024 vom israelischen Militär zerstört. Ohne sichere Schulen sind Frauen und Mädchen zusätzlichen Risiken ausgesetzt, einschließlich geschlechtsspezifischer Gewalt. Mehr als 1 Million palästinensische Kinder im Gazastreifen benötigen jetzt psychische und psychosoziale Unterstützung und werden ihr Leben lang unter dem Trauma dieses Krieges leiden.


"Die anhaltenden, brutalen Angriffe auf die Bildungsinfrastruktur im Gazastreifen haben langfristig verheerende Auswirkungen auf die Grundrechte der Menschen zu lernen und sich frei zu äußern, und berauben eine weitere Generation von PalästinenserInnen ihrer Zukunft", so die Experten. "StudentInnen mit internationalen Stipendien werden zudem daran gehindert, eine Universität im Ausland zu besuchen", fügten sie hinzu.


"Wenn Schulen zerstört werden, dann werden auch Hoffnungen und Träume zerstört.“

Sogar UN-Schulen, die vertriebene ZivilistInnen beherbergen, werden bombardiert, auch in den vom israelischen Militär als "sichere Zonen" bezeichneten Gebieten.


"Diese Angriffe sind keine isolierten Vorfälle. Sie zeigen ein systematisches Muster von Gewalt, das darauf abzielt, die Grundlagen der palästinensischen Gesellschaft zu zerstören", so die UN-ExpertInnen.


Die ExpertInnen riefen alle Parteien auf, das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechte zu achten und Bildungseinrichtungen, Lehrer und Schüler zu schützen. "Wir erinnern Israel insbesondere an seine Verpflichtung, die vom Internationalen Gerichtshof am 26. Januar angeordneten vorläufigen Maßnahmen zu befolgen", so die ExpertInnen.


Die ExpertInnen zeigten sich ebenso entsetzt über die Vernichtung des kulturellen Sektors in Gaza durch die Zerstörung von Bibliotheken und Kulturerbe-Stätten. "Die Grundlagen der palästinensischen Gesellschaft werden in Schutt und Asche gelegt, und ihre Geschichte wird ausgelöscht.“


"Angriffe auf die Bildung können nicht toleriert werden. Die internationale Gemeinschaft muss eine klare Botschaft aussenden, dass diejenigen, die Schulen und Universitäten angreifen, zur Verantwortung gezogen werden", so die ExpertInnen und fügten hinzu, dass die Rechenschaftspflicht für diese Verstöße auch die Verpflichtung zur Finanzierung und zum Wiederaufbau des Bildungssystems umfasst.


"Wir sind es den Kindern in Gaza schuldig, ihr Recht auf Bildung zu wahren und den Weg für eine friedlichere und gerechtere Zukunft zu ebnen."

 

Domizid in Gaza


„Die großflächige oder systematische Zerstörung von Häusern ist seit langem ein Merkmal der modernen Kriegsführung. Was jedoch in den Bildern von Trümmern und Statistiken über zerstörte Gebäude oft untergeht, sind die tiefgreifenden Auswirkungen dieses Verlusts auf menschlicher Ebene.

Denn ein Haus ist so viel mehr als nur ein Bauwerk: Es ist ein Speicher für vergangene Erfahrungen und zukünftige Träume, für Erinnerungen an Geburten, Todesfälle, Eheschließungen und intime Momente mit unseren Lieben, inmitten von Nachbarn und einer vertrauten Landschaft. Die Vorstellung von einem Zuhause spendet Trost und gibt unserem Leben einen Sinn. Ihre Zerstörung bedeutet die Verneinung der Würde und der Menschlichkeit des Menschen.

Aus diesem Grund sollte die systematische und wahllose Zerstörung ganzer Stadtviertel durch Sprengstoffwaffen - wie in Aleppo, Mariupol und Grosny, in Städten in Myanmar oder ganz aktuell in Gaza - als Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet werden. Eine wachsende Zahl von Rechtswissenschaftlern und anderen Gelehrten ist dieser Meinung.

Man nennt es Domizid.“


Balakrishnan Rajagopal, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Wohnen und Rechtsprofessor am Massachusetts Institute of Technology in Boston

 

 

Der UN-Sonderberichterstatter Balakrishnan Rajagopal legte den Vereinten Nationen bereits im Oktober 2022 (also noch vor der Zerstörung von Gaza) einen Bericht vor, in dem er darauf hinwies, dass "eine sehr wichtige Schutzlücke" geschlossen werden müsse, da Domizid, ein in der Wissenschaft zunehmend akzeptiertes Konzept, nach dem Völkerrecht kein eigenständiges Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei.


In einem am 15. April von UN-ExpertInnen veröffentlichtem Bericht wurde festgehalten, dass sechs Monate nach Beginn der Militäroffensive im Gazastreifen prozentual mehr Wohnungen und zivile Infrastrukturen zerstört worden sind als in jedem anderen Konflikt seit Menschengedenken: „Die Häuser sind weg und damit auch die Erinnerungen, Hoffnungen und Bestrebungen der Palästinenser und ihre Fähigkeit, andere Rechte zu verwirklichen, einschließlich ihres Rechts auf Land, Nahrung, Wasser, sanitäre Einrichtungen, Gesundheit, Sicherheit und Privatsphäre (insbesondere von Frauen und Mädchen), Bildung, Entwicklung, eine gesunde Umwelt und Selbstbestimmung. Hinzu kommt die systematische Zerstörung palästinensischer Häuser während der jahrzehntelangen Besatzung und früherer Bombardierungen."


Nach Ansicht der ExpertInnen stellt die systematische und weit verbreitete Zerstörung von Wohnungen, Dienstleistungen und ziviler Infrastruktur ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einen Domizid sowie zahlreiche Kriegsverbrechen und Akte des Völkermords dar, wie die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, in ihrem jüngsten Bericht an den Menschenrechtsrat beschrieben hat.


Zwischen 60-70 % aller Häuser im Gazastreifen und bis zu 84 % der Häuser im nördlichen Gazastreifen sind entweder völlig zerstört oder teilweise beschädigt. Nach Schätzungen der Weltbank, der Vereinten Nationen und der EU belaufen sich die Schäden im Gazastreifen bisher auf 18,5 Mrd. USD oder 97 % des gesamten BIP von Gaza und Westjordanland. Erstaunliche 72 % dieser Schätzung entfallen auf den Wohnungsbau, weitere 19 % auf die zivile Infrastruktur, einschließlich Wasserversorgung, Abwasserentsorgung, Stromversorgung und Straßen.


Nach Ansicht der Experten macht das Ausmaß der Zerstörung mit über 33.000 Toten und 1,7 Millionen Vertriebenen (75 % der Bewohner des Gazastreifens) deutlich, dass ein Wiederaufbauprogramm für den Gazastreifen unerlässlich ist.


"Ein solcher Wiedergutmachungsansatz beginnt bei Israel, der Besatzungsmacht, die den Gazastreifen zerstört hat, sowie bei den Ländern, die den Krieg und die Besatzung militärisch, materiell und politisch unterstützt haben, die alle sowohl rechtlich als auch moralisch Verantwortung tragen", so die UN-ExpertInnen.

 


Die Farben und die Freude sind verschwunden": Menschen in Gaza kehren in die zerstörte Stadt Khan Younis zurück - Domizid am Beispiel Khan Younis


(Link zum gesamten Artikel "‘The colors and joy have disappeared’: Gazans return to decimated Khan Younis" von Ruwaida Kamal Amer, 11. April 2024 (Stand 22. April 2024))


Tausende von Palästinensern sind in den letzten Tagen in die Stadt Khan Younis zurückgekehrt, nachdem sich die israelische Armee am Sonntag [dem 7. April, Anm.] plötzlich zurückgezogen hatte. Was sie erwartete, war ein Bild der totalen Verwüstung, so dass viele nicht einmal mehr ihre alten Häuser und Straßen erkennen konnten. Ganze Stadtteile wurden durch Bombardierungen, Granatenbeschuss und Bulldozer zerstört, so dass kaum noch Spuren zu finden sind. Khan Younis ist jetzt eine Stadt aus Schutt und Asche.


Vor dem Krieg lebten in der Stadt und ihrer Umgebung etwa 400.000 Menschen, was sie nach Gaza-Stadt zum zweitgrößten städtischen Gebiet des Gazastreifens machte. Diese Zahl hat sich in den ersten Wochen des Krieges mehr als verdoppelt, als Israel allen BewohnerInnen des nördlichen Streifens befahl, in den Süden zu evakuieren, obwohl es Khan Younis ebenso bombardierte. Als die israelischen Truppen die Stadt Anfang Februar vollständig belagerten, waren viele PalästinenserInnen gezwungen, durch einen so genannten "sicheren Korridor" zu fliehen, was für diejenigen, die sich auf den Weg machten, mit Misshandlungen und Demütigungen verbunden war.    


Nachdem die Armee in den letzten Tagen Khan Younis geräumt hatte, wollten die ehemaligen BewohnerInnen der Stadt nach mehr als zwei Monaten zurückkehren, um zu sehen, was von der Stadt übrig geblieben war. Als sie durch die einst belebten und nun kaum noch erkennbaren Straßen gingen, waren viele schockiert über das, was sie vorfanden.


"Ich bin ein Sohn dieser Stadt, aber ich erkenne ihre Straßen nicht mehr", sagte Ahmed Suleiman, ein 35-Jähriger aus dem Flüchtlingslager Khan Younis, dem Magazin +972. "Ich kam am Bani Suhaila Kreisverkehr [eine der Hauptkreuzungen der Stadt, Anm.] an und sah große Zerstörung, nur einen Haufen Sand - es sah aus wie in einer Wüste."


Suleiman, der mit seiner Familie in Rafah Zuflucht gesucht hatte, nachdem er aus Khan Younis geflohen war, beschrieb, was er vorfand, als er das Flüchtlingslager erreichte: "Alle einstöckigen Häuser waren völlig zerstört, es gab nur noch mehrstöckige Häuser, die schwere Schäden durch Beschuss und Brandstiftung aufwiesen. Als ich bei meinem Wohnhaus ankam, war die Tür zerstört und einige Fenster waren verbrannt und zerbrochen. Ich betrat das Gebäude und prüfte ein Stockwerk nach dem anderen. Sie waren alle völlig verkohlt. Meine Wohnung befindet sich im vierten und letzten Stock; als ich sie von der Straße aus sah, hoffte ich, dass sie in Ordnung sein würde. Aber als ich dort ankam, fand ich eine Menge Schäden vor.“


"Ich begann mich an die Momente zu erinnern, die ich mit meinen Kindern in diesem Haus verbrachte", fuhr er fort. "Ich habe viel nach den Spielsachen meiner Kinder gesucht, damit ich ihnen etwas von zu Hause mitbringen konnte. Ich fand nur wenige, von denen einige verbrannt und andere zerbrochen waren. Ich nahm, was ich finden konnte, und gab es meinen Kindern."

Während er sein Haus inspizierte, traf Suleiman mehrere seiner Nachbarn, die ebenfalls zurückgekehrt waren, um sich die Schäden anzusehen. "Viele von ihnen waren schockiert und traurig über die schwere Zerstörung", sagte er. "Wir haben uns gefragt: Wem gehört dieses Haus? Wo ist das Geschäft hin? Wie können wir diese Straße finden? Als ich Videos von der Stadt in den sozialen Medien sah, dachte ich, dass die Zerstörung nicht so schlimm sei. Aber die Realität sieht anders aus. Sie ist sehr beängstigend. Man hat das Gefühl, sich in einem schmerzhaften Alptraum zu befinden.“


"Die Stadt ist grau geworden durch die Zerstörung und die Trümmer", fuhr Suleiman fort. "Die Farben und die Freude in der Stadt sind leider verschwunden. Ich weiß nicht, wie ich mit meinen Kindern zurückkehren und hier ohne ein Zuhause leben soll. Meine Wohnung ist völlig zerstört. Es gibt keine Infrastruktur in der Gegend. Ich werde ein wenig warten, bis die Lebensgrundlagen in die Stadt zurückkehren, dann werde ich ein Zelt neben dem Haus aufstellen, bis es wieder aufgebaut ist."


"Die Stadt sieht jetzt wie eine Wildnis aus", sagte Hanadi Al-Astal, 40, nach ihrer Rückkehr nach Khan Younis gegenüber +972. Sie floh im Dezember aus der Stadt und zog mit ihren fünf Kindern in das nahe gelegene European Hospital, wo sie und ihr Mann arbeiten.

"Als ich mich meinem Haus näherte, sah ich eine schreckliche Zerstörung, und ich bekam große Angst vor dem, was ich im Haus vorfinden würde", so Al-Astal weiter. "Ich war schockiert. Ich betrat das Haus und fand es verbrannt vor. Es gab keine Zimmer mehr. Die Küche war vollständig verbrannt. Ich suchte im ehemaligen Zimmer meiner Kinder nach ihren Kleidern und allem, was ich finden konnte. Ich habe viel geweint. Mein Herz brannte angesichts all dieser Zerstörung. Ich konnte es nicht fassen. Khan Younis ist zu einem Albtraum geworden. Es ist nicht mehr zum Leben geeignet.“


Mamdouh Khader, 33, sagte, dass er, als er nach zwei Monaten in Rafah nach Khan Younis zurückkehrte, drei Tage lang herumlief, um so viel wie möglich von dem zu sehen, was noch übrig war. "Ich konnte die Zerstörung nicht glauben, die ich sah", sagte er gegenüber +972. "Viele Wahrzeichen der Stadt wurden entfernt. Mein Viertel war völlig zerstört; es war ein Berg von Schutt. Ich konnte mein Haus nicht finden.“


"Gegenüber unserem Haus befand sich ein Spielplatz, der komplett von Bulldozern plattgemacht worden war und zu einem Sandberg wurde", fuhr er fort. "Ich suchte nach der Moschee neben unserem Haus, und sie war ein Trümmerhaufen aufgrund der Bombardierung, die das Gebiet traf. Ich ging in Richtung Nasser-Krankenhaus auf einer sandigen Straße, die mit Bulldozern abgetragen worden war, und Sand bedeckte die Tore der Schulen neben dem Krankenhaus. Die Friedhöfe hinter dem Krankenhaus waren ebenfalls von Bulldozern zerstört worden. Ich lief umher und fragte: Was ist das für eine Gegend? Wo ist dieser Ort?“


Trotz der großen Zerstörung ist Khader entschlossen, in das Viertel zurückzukehren, das einst sein Zuhause war. "Ich war während meiner Vertreibung in Rafah sehr müde und wartete jeden Moment darauf, in meine Stadt zurückzukehren", sagte er. "Leider hat die Besatzung diese schöne Stadt zerstört. Ich weiß nicht, wie sie wieder auferstehen und zu ihrer Vitalität zurückkehren soll. Die Zerstörung ist enorm und lässt sich nicht in Worte fassen. Aber ich werde warten, bis die Wasserleitungen in der Gegend ausgebaut sind, und ich werde ein Zelt aufstellen und mit meinen Kindern darin schlafen."

 



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