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„Selbst auf den Straßen ist kein Platz mehr“: Palästinenser*innen, die aus Gaza-Stadt fliehen wollen, finden keinen Ort mehr, an den sie gehen können

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  • 13. Sept.
  • 6 Min. Lesezeit

Während die israelische Armee ihre Offensive verstärkt, berichten Palästinenser*innen in Gaza-Stadt, von denen die meisten bereits mehrfach vertrieben wurden, dass es schwierig ist, in den sogenannten Sicherheitszonen Platz zu finden. „Einige Leute, die versuchten, in den Süden zu gehen, sind bereits zurückgekommen. Es gibt keinen Platz mehr für irgendjemanden“, berichtet ein Einwohner.


Von Nagham Zbeedat, Haaretz, 8. September 2025

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

In Gaza-Stadt breitete sich innerhalb von 15 Minuten Panik aus. Familien warfen Koffer und Decken von den Balkonen, Kinder klammerten sich an Spielzeug und Nachbarn riefen Warnungen, als israelische Kampfflugzeuge näher kamen. Am Wochenende, so berichten Bewohner*innen, hätten sie kaum 20 Minuten Zeit gehabt, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Angriffe begannen.

Die Bombardierung, die Teil der sich verschärfenden Kampagne Israels vor einer bevorstehenden Bodeninvasion in Gaza-Stadt war, zwang Familien nicht nur dazu, nach Schutz zu suchen, sondern auch zu entscheiden, was sie aus einem Leben mitnehmen sollten, das plötzlich auf das reduziert war, was sie in wenigen Augenblicken greifen konnten. „Wir wissen nicht einmal, was wir in 15 Minuten einpacken sollen“, so ein Bewohner gegenüber Haaretz.

Diese Art von überstürzten, wiederholten Evakuierungen ist nur allzu bekannt geworden. Allein seit März wurden von den Vereinten Nationen über 856 000 Vertreibungen in Gaza registriert - viele Personen werden dabei mehrmals gezählt, da sie mehrfach vertrieben wurden. Laut dem Bericht der Vereinten Nationen sind mittlerweile bis zu 1,9 Millionen Menschen, mehr als 90 Prozent der Bevölkerung Gazas, mindestens einmal vertrieben worden.

Ende August forderte der arabischsprachige Sprecher der israelischen Streitkräfte alle 1,2 Millionen Einwohner*innen von Gaza-Stadt auf, sich in sogenannte „Sicherheitszonen“ weiter südlich zu begeben; seitdem haben schätzungsweise 100 000 Menschen die Stadt verlassen. Einige Stadtteile von Gaza-Stadt erhielten offizielle Evakuierungsbefehle, die per Flugblatt aus der Luft oder per Telefon übermittelt wurden.

Osama Abdul Hadi, 27, hat seit Beginn der israelischen Militäroperationen in Gaza-Stadt noch keine offizielle Evakuierungsanordnung erhalten, obwohl er bereits mehrfach aus seinem Haus im Stadtteil Sheikh Radwan geflohen ist. Zuvor konnte er noch zurückkehren, doch nun lebt er im Flüchtlingslager al-Shati am westlichen Rand der Stadt, im Haus seiner Großmutter. Es ist ein Ort, den sie selbst vor Monaten verlassen hat, als sie nach Muwasi zog, das teilweise von der israelischen Armee zur „humanitären Zone” erklärt wurde [jedoch trotzdem bombardiert wird, Anm.].

Was Abdul Hadi dazu veranlasste, zu fliehen, war nicht ein einzelner Luftangriff, sondern die unerbittliche Präsenz von Drohnen, die über seinem Viertel kreisten. Er erinnert sich, dass Sheikh Radwan am Abend wie eine „Geisterstadt“ wirkte, da sich die Menschen aus Angst vor Angriffen versteckten. Die Maschinen, sagt er, wurden für Angriffe und Einschüchterungen eingesetzt.

„Krankenwagen werden angegriffen, wenn sie zu Einsätzen ausrücken. Mitglieder des Zivilschutzes werden terrorisiert, wenn sie versuchen, einen Brand zu löschen - wie der Krankenwagen, der letzte Woche nach einem Luftangriff in Flammen aufgegangen ist. Während sie arbeiteten, schwebten Drohnen über ihren Köpfen, um sie zu erschrecken. Sie rannten weg, und als die Drohnen weg waren, riefen wir sie aus den Fenstern unserer Häuser zurück. Aber sobald sie zurückkamen, kamen die Drohnen wieder. Sie [die israelische Armee] spielten mit ihnen und benutzten sie, um sich zu amüsieren.“

Die Entfernung von Sheikh Radwan nach Shati beträgt weniger als zwei Meilen, aber die Straße erschien endlos. „Die Straßen bestehen jetzt nur noch aus Sand, es sind keine richtigen Straßen mehr. Überall liegt Schutt.“

Nur wenige Tage nach seinem Umzug wurde Abdul Hadi in seiner neuen Nachbarschaft verletzt. „Ich war auf dem Dach und habe Wasser aus dem Tank geholt, als in der Nähe eine Drohne abgefeuert wurde. Das Geräusch erschreckte mich und ich stürzte. Ich brach mir die Schulter und schlug mit dem Kopf auf den Beton.“

Er erinnert sich daran, wie anders sich die Vertreibung zu Beginn des Krieges im Vergleich zu heute angefühlt hat. „In den ersten Tagen, als man weggehen wollte, konnte man Leute im Süden anrufen – tausend Leute. Man fragte nach einer Unterkunft, einem Zimmer, sogar einem Stück Land, und man fand 2 000 Menschen, die bereit waren, einem zu helfen, einen aufzunehmen und einem zu geben, was sie konnten. Damals hatten die Menschen noch etwas, und sie haben einen nicht abgewiesen“, sagte er.

„Aber wenn man jetzt anruft, hebt niemand mehr ab. Nicht, weil sie nicht helfen wollen – nein, sondern weil dieser Krieg die Menschen gebrochen hat.“ Abdul Hadi sagt, der Krieg habe alles verändert und ihr Leben „auf den Kopf gestellt“. Diejenigen, die „dir einst zu Hilfe eilten, haben jetzt selbst kein Zuhause mehr, ja nicht einmal mehr ein Zelt für sich selbst. Dieser Krieg ist wie der Tag des Jüngsten Gerichts – die Menschen sind müde und schämen sich, dass sie dir nicht helfen können, weil sie nichts mehr haben.“

Wie viele andere träumt auch Abdul Hadi davon, Gaza-Stadt endgültig zu verlassen, sieht jedoch keinen Ausweg. „Einige Leute, die in den Süden gegangen sind, sind bereits zurückgekommen – es gibt keinen Platz mehr für irgendjemanden. Die günstigste Wohnung kostet 1000 Dollar, ohne Nebenkosten“, mehr als doppelt so viel wie vor dem Krieg. „Wo sollen wir so viel Geld hernehmen?“

Für Enas, eine 32-jährige Mutter von drei Kindern, begann die Herausforderung schon vor der Flucht. Als der Evakuierungsbefehl kam, wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte. „Wie soll ich ein ganzes Leben einpacken? Jahrelange Arbeit, Kindererziehung, Erinnerungen“, sagt sie.

Zusammen mit ihrem Mann und ihren Töchtern machte sie sich auf den Weg nach Süden. „Wir dachten, vielleicht finden wir einen Ort, an dem wir willkommen sind. Aber wir wurden enttäuscht. Diejenigen, die einen Platz im Süden gefunden haben, können sich glücklich schätzen. Aber was ist mit dem Rest von uns? Selbst auf den Straßen ist kein Platz mehr. Die meisten Menschen haben keine Unterkunft, kein Zelt und keinen Ort, an den sie gehen können. Viele von uns würden lieber sterben, als noch mehr Vertreibungen zu erdulden. Wir haben kein Geld mehr, wir haben keine Kraft und keine Energie mehr, um zu flüchten.“

Sie erklärt, dass selbst Geld keine Sicherheit garantieren kann. „Man braucht etwa 2 000 Dollar für [jede] Umsiedlung“, sagt sie und schlüsselt die Kosten auf: „400 Dollar für den Transport, 400 Dollar für ein Stück Land, auf dem man sein Zelt aufschlagen kann, weitere 300 Dollar für das Material zum Bauen. Hinzu kommen weitere Ausgaben für Wasser, Lebensmittel und sogar für den Zugang zu einer Toilette. Selbst Menschen mit Geld schaffen das nicht immer.“

Und wenn Familien sich endlich niederlassen, sagt sie, hält das nicht lange an. „Sobald man sich niedergelassen hat und sich an das Leben gewöhnt, das man sich aufgebaut hat, wirft einen eine weitere Vertreibung aus der Bahn. Luftangriffe und Tod sind allgegenwärtig.“

Ihre Familie befindet sich derzeit in der Stadt Zawayda im Norden Gazas, in der Nähe von Deir al-Balah, aber die Unsicherheit hat sich nicht verringert. „Wir wissen nicht, ob wir weiter nach Süden ziehen oder in den Norden zurückkehren sollen. Meine Familie, die bereits in den Süden geflohen ist, berichtet, dass sie wegen der Luftangriffe und Bombardierungen seit einer Woche nicht mehr geschlafen hat. Wir wissen nicht, was wir tun sollen.“

Die 24-jährige Sabreen hat sich daran gewöhnt, schnell zu packen. Als ihre Familie in das Flüchtlingslager Nuseirat floh, nahm sie nur ein paar Kopftücher mit. „Ich wollte nicht, dass sie mir ausgehen“, sagt sie.

Seitdem hat sie stundenlang im Internet nach einer Unterkunft gesucht. „Ich habe viele Beiträge in Facebook-Gruppen gepostet, um eine Unterkunft für uns fünf in Khan Yunis oder Rafah [im Süden] zu finden, aber es gibt kaum etwas. Und wenn doch, dann ist es sehr teuer. Manche verlangen sogar in den roten Zonen hohe Summen für ihre Häuser“, sagt sie und bezieht sich dabei auf die von der israelischen Armee ausgewiesenen Kampfzonen. „Wer würde dorthin gehen? Dem Tod entkommen, um in den Tod zu gehen?“

Sabreen und ihre Familie wurden bereits vier Mal vertrieben, seit Israel im März den Waffenstillstand gebrochen hat. „Ich war mir sicher, dass der Krieg wieder ausbrechen würde, aber ich hätte nicht gedacht, dass wir schon am ersten Tag wieder fliehen müssten. Und genau das ist passiert. Wir sind ohne Habseligkeiten aus unserem Haus geflohen. Damals mieteten wir für zwei Monate eine Wohnung in Khan Yunis. Dann kam die Evakuierung von Khan Yunis.

Wir zogen zurück nach Deir al-Balah und blieben dort weniger als zwei Monate, bis auch dort die Evakuierungsanordnung kam. Wir konnten nirgendwo anders hingehen, also blieben wir eine Woche lang bei entfernten Verwandten in Nuseirat. Danach kehrten wir nach Gaza zurück und wohnten in den Ruinen der Wohnung meines Onkels.“

Nun wird ihrer Familie erneut gesagt, sie solle gehen. „Wir sollen wieder von vorne anfangen, eine neue Bleibe suchen, die Transportkosten bezahlen und die Last tragen. Aber in Wirklichkeit haben wir kein Geld mehr, keinen Ort, an den wir gehen können, nichts. Warum das alles? Und für wen? Was hier geschieht, ist in jeder Hinsicht ein Verbrechen.“


ree

 

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