top of page

„Sie stirbt vor unseren Augen": Die Kinder im Gazastreifen verhungern unter der israelischen Belagerung

  • office16022
  • vor 3 Tagen
  • 8 Min. Lesezeit

Mehr als 70 000 Kinder gelten mittlerweile als unterernährt. Die israelische Blockade des Gazastreifens lässt Eltern hilflos dabei zusehen, wie ihre Kinder verhungern.

Von Ahmed Ahmed und Ruwaida Amer, +972Mag, 8. Mai 2025

(Originalbeitrag in englischer Sprache und mit dazugehörenden Bildern)

 

Die zwölfjährige Rahaf Ayad ist so unterernährt, dass sie kaum sprechen kann. Ihre Haare fallen aus. Ihre Rippen ragen heraus. Sie kann ihre Gliedmaßen kaum bewegen. Sie blinzelt langsam, ihre Augenlider sind schwer.

Rahaf stammt ursprünglich aus Al-Shuja'iya im Osten von Gaza-Stadt und lebt jetzt mit ihren sieben Familienmitgliedern in einem einzigen Zimmer im Haus eines Verwandten im Stadtteil Al-Rimal. Shurooq, Rahafs Mutter, erklärt, dass sich der Gesundheitszustand ihrer Tochter aufgrund des Nahrungsmangels rasch verschlechterte. „Wenn jemand sie berührt oder sie versucht, ihre Arme oder Beine zu bewegen, schreit sie vor Schmerzen“, berichtet sie gegenüber +972. „Sie sagt, es fühlt sich an, als würde ihr Körper von innen heraus brennen. Sie bittet um Huhn, Fleisch oder Eier - aber auf den Märkten gibt es nichts.“

Shurooq und ihr 45-jähriger Ehemann Rani sind auf der Suche nach Behandlung, Nahrungsergänzungsmitteln oder auch nur Ratschlägen von Klinik zu Klinik gegangen, aber das zerstörte Gesundheitssystem im Gazastreifen bietet kaum Hilfe. „Die Ärzte sagten uns, dass es Hunderte von Kindern wie Rahaf gibt und dass das Einzige, was sie retten kann, richtige Nahrung ist“, sagt sie. „Ich habe in einer Apotheke Vitamine für sie gekauft, aber als ich eine Woche später zurückkam, um neue zu kaufen, waren sie alle aufgebraucht.“

Rahafs Geschwister helfen ihr bei der Pflege: Sie füttern sie, baden sie, bringen sie zur Toilette und wechseln ihre Kleidung. Wenn Essen verfügbar ist, stellt die Familie Rahafs Bedürfnisse an erste Stelle. „Wir essen erst, wenn sie gegessen hat“, so Shurooq. „Wenn wir Geld haben, kaufen wir alles, worum sie bittet. Aber jetzt gibt es nichts - und wenn wir etwas finden, können wir es uns nicht leisten.“

Selbst wenn es Shurooq gelingt, einige der wenigen Grundnahrungsmittel, die es in Gaza noch gibt, wie Reis, Linsen oder Nudeln, zu finden und zuzubereiten, schreit Rahaf nach Huhn, Fleisch oder Eiern - nach allem, was ihrem Körper das so dringend benötigtes Eiweiß liefert. Schließlich siegt der Hunger und sie isst alles, was verfügbar ist.

„Ich sage ihr, dass die Grenze bald geöffnet wird und ich ihr alles bringen werde, was sie will“, sagt Shurooq und hält die Tränen zurück. „Rahafs Gesundheit bricht jeden Tag mehr zusammen. Sie stirbt vor meinen Augen, und wir können nichts tun.“

Rahaf liebt die englische Sprache. Einst träumte sie davon, Englisch an der Universität zu studieren und Lehrerin zu werden. Doch ihr Leben ist – wie das von Hunderttausenden von Kindern in Gaza – durch den anhaltenden Krieg Israels bis zur Unkenntlichkeit zerstört worden.

„Ich wünschte, mein Haar würde wiederkommen“, flüstert Rahaf. „Ich möchte laufen und mit meinen Geschwistern spielen, so wie früher.“

 

Der stille Mörder

Seit etwas mehr als zwei Monaten verhindert Israel die Einfuhr von Lebensmitteln, Waren und medizinischen Gütern in den Gazastreifen. Die Folgen sind katastrophal: Nach Angaben des Medienbüros der Regierung von Gaza befinden sich mehr als 70 000 Kinder mit akuter Unterernährung in Krankenhäusern, und 1,1 Millionen Kindern fehlt das tägliche Minimum an Nahrungsmitteln zum Überleben.

Das palästinensische Gesundheitsministerium in Gaza berichtete, dass mit Stand 5. Mai 2025 seit Beginn des Krieges mindestens 57 Kinder an den Folgen der Unterernährung gestorben sind und weitere 3 500 Kinder unter fünf Jahren unmittelbar vom Hungertod bedroht sind.

„In den letzten zwei Wochen hat sich die Hungersnot erheblich verschärft“, sagte Dr. Ahmed Al Faraa, Leiter der Abteilung für Entbindungs- und Kinderheilkunde am Nasser-Krankenhaus, gegenüber +972. „In dieser Zeit haben wir etwa zehn Kinder behandelt, die an sehr schwerer Unterernährung leiden.“

Dr. Ahed Khalaf, Kinderärztin am Nasser-Krankenhaus, sagte kürzlich gegenüber Al Jazeera, dass sie noch nie so schwere Fälle von Unterernährung bei Kindern gesehen hätten. „Sie leiden an Blutvergiftung, Organversagen, Leber- und Nierenschäden, bakteriellen und mikrobiellen Infektionen und einem geschwächten Immunsystem.“

Kurz nachdem der israelische Verteidigungsminister Israel Katz am 16. April erklärt hatte, dass „derzeit niemand die Absicht hat, humanitäre Hilfe nach Gaza zu lassen“, begannen lokale und internationale Lebensmittelverteiler, die einst die Lebensader für Hunderttausende waren, einen nach dem anderen zu schließen. Am 25. April teilte das Welternährungsprogramm mit, dass es keine Lebensmittelvorräte mehr habe. Am 7. Mai teilte World Central Kitchen mit, dass sie „nicht mehr über die nötigen Vorräte verfügt, um in Gaza Mahlzeiten zu kochen oder Brot zu backen“.

„Die Belagerung des Gazastreifens ist ein stiller Mörder für Kinder und ältere Menschen“, sagte UNRWA-Sprecherin Juliette Touma am 29. April in einer Pressekonferenz. „Wir haben etwas mehr als 5 000 Lastwagen mit lebensrettenden Hilfsgütern, die bereit sind, hineinzukommen. Diese Entscheidung [sie nicht reinzulassen] bedroht das Leben und Überleben der Zivilbevölkerung in Gaza, die ebenfalls tagtäglich unter schwerem Bombardement steht.“

 

„Alle, die ich kenne, sind bankrott“

Ibrahim Badawi, 38, braucht mindestens vier Kilo Mehl pro Tag, um seine neunköpfige Familie zu ernähren. In diesen Tagen hat er Schwierigkeiten, auch nur ein Kilo aufzutreiben. „Ich fühle mich hilflos, wenn meine Kinder nach Brot fragen und ich ihnen nichts geben kann“, sagt er gegenüber +972. „Manchmal wünsche ich mir, dass meine Kinder und ich zusammen bei einem Luftangriff sterben - damit uns der Schmerz des Verhungerns und diese ständige Qual erspart bleibt.“

Badawi, der aus Beit Hanoun im nördlichen Gazastreifen vertrieben wurde, lebt in einer behelfsmäßigen Unterkunft aus Planen und Decken am Strand von Gaza-Stadt. Seit Israel den Waffenstillstand im März gebrochen hat, hat Badawi kein einziges Lebensmittelpaket mehr erhalten.

Badawi und seine Frau haben sich zusammen mit ihrem ältesten Sohn Mustafa, 15, daran gewöhnt, hungrig zu Bett zu gehen, damit die jüngeren Kinder die kleinen Portionen Reis oder Linsen essen können, die sie gelegentlich von der Gemeinschaftsküche erhalten. „Mein Jüngster, Abdullah, der vier Jahre alt ist, weint vor Hunger und sagt, dass ihm der Magen weh tut. Ich lüge ihn an und sage ihm, dass ich ihm bald Mehl bringen werde, damit er schlafen kann“, erzählt Badawi.

Aber selbst wenn es Mehl gäbe, könnte Badawi es sich nicht leisten. Bis Ende März lebten die meisten Menschen im Gazastreifen von Brotvorräten und Konserven, da die Preise in die Höhe schossen. Doch dann verschärfte sich die Krise: Als alle 26 Bäckereien des Welternährungsprogramms aufgrund von Mehl- und Treibstoffmangel schlossen, wurde Weißmehl unerschwinglich. Ein 25-Kilogramm-Sack Weißmehl, der vor dem Krieg 30 NIS (7,40 Euro) kostete, kostet jetzt schwindelerregende 1.500 NIS (371 Euro).

„Ich habe mir schon oft Geld von Nachbarn und Freunden geliehen, um Mehl zu kaufen“, so Badawi. „Aber jetzt sind alle, die ich kenne, pleite. Meine Kinder leiden an Koliken und Verdauungsstörungen. Wenn diese Hungersnot anhält, werden wir alle verhungern.“

 

„Weder Israel, noch die Hamas, noch die Welt kümmern sich um uns“

Hadia Radi, eine 42-jährige Mutter von sechs Kindern, lebt mit ihrer Familie in einem behelfsmäßigen Zelt in der Al-Wihda-Straße in Gaza-Stadt. Wie unzählige andere Familien in der Enklave haben sie seit Monaten mit Hunger und Bombardierungen zu kämpfen. Am 15. April schlug ein israelischer Luftangriff nur wenige Meter von ihrem Zelt entfernt ein und verletzte mehrere Familienmitglieder, darunter Hadias siebenjähriger Sohn Yamen, dessen Bein gebrochen wurde, als es von einem Schrapnell getroffen wurde.

Yamen wird jetzt im Feldkrankenhaus des Roten Halbmonds in Al-Saraya behandelt, und seine Genesung wird durch seine schwere Unterernährung erschwert. „Er hat in zwei Monaten zehn Kilo abgenommen“, sagt Radi gegenüber +972. „Wir haben seit Beginn der Blockade nichts anderes als Reis gegessen. Ohne richtige Ernährung werden unsere Wunden nicht heilen.“

Die Lebensmittel sind inzwischen so knapp, dass selbst kleine Freundlichkeiten riskant sein können. Kürzlich hörte ein Nachbar, wie Yamen von seinem Krankenhauszelt aus am Telefon weinte und seine Mutter um Brot anflehte. Am nächsten Morgen brachte er der Familie zehn Stücke Brot, die er in einer schwarzen Tasche versteckt hatte, um keine hungrigen Blicke auf sich zu ziehen. Radi versteckte das Brot wie einen Schatz in ihrem Zelt. „Jeden Tag schickte ich ein Stück mit meinem Mann für Yamen. Seine Geschwister wollten auch etwas, aber ich habe ihnen gesagt, dass die am meisten Verletzten zuerst drankommen müssen.“

Yamen bittet immer wieder darum, dass seine Mutter ihn besucht, aber Radi kann aufgrund ihrer eigenen Verletzungen von der Explosion, die ein gebrochenes Bein, das sie auf Krücken angewiesen macht, verursachte, keine weiten Strecken gehen. Sie ist auch nicht in der Lage, ihre 13-jährige Tochter Hannan zu erreichen, die in den überfüllten Stationen des Al-Shifa-Krankenhauses behandelt wird.

Hannan wurde von einem Schrapnell getroffen, das ihr ein Auge nahm und sie gehunfähig machte. Der Mangel an Nahrung hat ihre Genesung massiv erschwert. „Sie bräuchte Gemüse, gesundes Essen und besondere Pflege, um zu heilen“, erklärt Radi. „Aber hier gibt es nichts davon.“

Radi glaubt, dass Israel den Gazastreifen aushungert, um Druck auf die Hamas auszuüben, aber sie sagt, dass die normalen Familien den Preis dafür zahlen. „Wir sehen zu, wie unsere Kinder dahinsiechen, und weder Israel, noch die Hamas, noch die Welt kümmert sich darum“, beklagt sie. „Warum sollten meine Kinder verhungern? Was haben wir getan, um das zu verdienen? Wenn Sie den Krieg nicht beenden können, dann öffnen Sie wenigstens die Grenzen. Lasst uns nicht verhungern.“

 

Netanjahu bestraft uns für unsere bloße Existenz

Heba Malahi, 41, lebt ebenfalls in einem behelfsmäßigen Zelt in der Al-Wihda-Straße in Gaza-Stadt, seit ein israelischer Luftangriff im Jahr 2023 ihr Haus in Juhor ad-Dik zerstört hat. Jetzt lassen sie und ihr 45-jähriger Ehemann Ribhi regelmäßig Mahlzeiten ausfallen, damit ihre sieben Kinder essen können.

Mahmoud, der sechsjährige Sohn des Paares, leidet an schwerer Unterernährung. „Er ist die ganze Zeit müde. Er isst nicht, seine Knochen schmerzen, und seine Zähne beginnen auszufallen“, so Heba gegenüber +972. „Letzte Woche bettelte er um Tomaten. Wir haben unsere letzten Konserven verkauft, um ein einziges Kilo zu kaufen - diese eine Mahlzeit haben wir uns alle geteilt.“

Ihre 17-jährige Tochter Ruba sehnt sich verzweifelt nach einfachen Lebensmitteln wie Kartoffeln, aber bei 60 NIS (15 Euro) pro Kilo sind sie praktisch unbezahlbar. „Netanjahu bestraft uns nur dafür, dass wir existieren“, sagt Heba. „Vielleicht könnte jemand wie Trump ihn zwingen, die Grenzen zu öffnen, bevor wir alle verhungern. Wenn sich die Menschen ihre eigenen Kinder in diesem Zustand vorstellen würden, dann würden sie vielleicht handeln“, fügt sie hinzu.

Weiter südlich, in Khan Younis, sitzt Mona Al-Raqab seit über einer Woche mit ihrem fünfjährigen Sohn Osama im Nasser Medical Complex. Er wiegt derzeit gerade einmal neun Kilogramm. Da er seit Beginn des Krieges mehrfach umgesiedelt wurde und kaum Nahrung oder sauberes Wasser bekam, hat sein Verdauungssystem fast versagt. „Die Ärzte versuchen, ihn mit Nährstoffen zu füttern“, sagt Al-Raqab, „aber ein heranwachsendes Kind braucht echte Nahrung in unterschiedlichen Formen.“

Ein paar Zimmer weiter wacht die 30-jährige Nagia Al-Najjar über ihr schwer unterernährtes fünf Monate altes Baby Yousef in seinem Bettchen. Ihre vier anderen Kinder bleiben mit ihrem Vater in ihrem Zelt im Dorf Abasan, nachdem ihr Haus im Bani Suhaila-Viertel von Khan Younis zerstört wurde. Das Krankenhaus hat Schwierigkeiten, angesichts der Blockade Babymilch zu geben. „Ich kann nicht stillen, weil ich selbst kaum etwas esse“, berichtet Al-Najjar gegenüber +972. „Ich finde keine Worte, um auszudrücken, wie ich mich als Mutter fühle.“

Dr. Al Faraa erklärte, dass der Mangel an Nahrung zu Fehlgeburten und gefährlich untergewichtigen Neugeborenen mit schweren Missbildungen geführt hat. Die Familien mahlen nun Nudeln – oder sogar Reis und Linsen – zu provisorischem Mehl. „Es ist mir egal, wenn ich verhungere“, sagt Al-Najjar. „Aber was haben meine Kinder getan, um das zu verdienen?“

 

Ahmed Ahmed ist ein Pseudonym für einen Journalisten aus Gaza-Stadt, der aus Angst vor Repressalien anonym bleiben möchte.

Ruwaida Amer ist eine freiberufliche Journalistin aus Khan Younis.




Comments


bottom of page