Tausende Menschen in Gaza werden seit Beginn des Krieges vor zwei Jahren vermisst. Verzweifelte Familien suchen nach Hinweisen.
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Von Wafaa Shurafa und Sarah El Deeb, Associated Press, 7. Oktober 2025
(Originalbeitrag in englischer oder spanischer Sprache)
DEIR AL-BALAH, Gaza-Stadt (AP) – Als die israelischen Bomben zu fallen begannen, flohen Mohammad al-Najjar, seine Frau und seine sechs Kinder mitten in der Nacht aus ihrem Haus im Süden Gazas und rannten voller Angst zusammen mit Hunderten anderen aus ihrer Nachbarschaft.
Als sich der Staub gelegt hatte und al-Najjar mit seiner Familie in einem kilometerweit entfernten Unterschlupf kauerte, war sein 23-jähriger Sohn Ahmad verschwunden. Nach Tagesanbruch suchte die Familie in den umliegenden Krankenhäusern und fragte Nachbar*innen, ob sie ihn gesehen hätten.
Es gab keine Spur von ihm. Fast zwei Jahre später suchen sie immer noch.
„Es ist, als hätte ihn die Erde verschluckt“, sagt Mohammad al-Najjar. Er spricht aus dem Zelt der Familie in Muwasi an der Südküste Gazas, ihrem neunten Flüchtlingslager seit jener schicksalhaften Nacht im Dezember 2023.
Tausende Menschen in Gaza suchen nach Angehörigen, die in einem der verheerendsten Kriege der letzten Jahrzehnte vermisst werden. Einige sind unter zerstörten Gebäuden begraben. Andere, wie der Sohn von al-Najjar, sind während israelischer Angriffe einfach verschwunden.
In einem Krieg, in dem die tatsächliche Zahl der Todesopfer unbekannt ist, „weiß niemand, wie hoch die genaue Zahl (der Vermissten) ist“, sagte Kathryne Bomberger, Generaldirektorin der Internationalen Kommission für vermisste Personen.
Die Familie al-Najjar hat die Trümmer ihres zerbombten Hauses durchsucht. Sie gingen zu Leichenhallen und erkundigten sich beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. „Ist er ein Gefangener (in Israel), ist er tot?“, fragt der 46-jährige Vater. „Wir sind verzweifelt. Es quält uns zutiefst.“
Die israelische Strafvollzugsbehörde und das Militär gaben an, dass sie keine Angaben zu bestimmten Gefangenen machen könnten, und weigerten sich, sich zu al-Najjars Status zu äußern.
Eine gewaltige Aufgabe
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza wurden etwa 6 000 Menschen von Angehörigen als noch unter den Trümmern begraben gemeldet. „Die tatsächliche Zahl dürfte um Tausende höher liegen, da in einigen Fällen ganze Familien bei einem einzigen Bombenangriff ums Leben kamen und niemand mehr da ist, um die Vermissten zu melden“, berichtet Zaher al-Wahidi, der für die Daten zuständige Beamte des Ministeriums.
Unabhängig davon habe das Ministerium Meldungen von Familien über weitere 3 600 Vermisste erhalten, deren Schicksal unbekannt ist, so al-Wahidi. Bislang sind nur über 200 Fälle untersucht worden. Von diesen Fällen sind sieben Personen von Israel inhaftiert worden. Die anderen gehörten nicht zu denjenigen, die als tot oder unter Trümmern begraben bekannt sind.
Das Ministerium ist Teil der von der Hamas geführten Regierung. Die Vereinten Nationen und viele unabhängige Expert*innen halten seine Zahlen für zuverlässig.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) verfügt über eine eigene Liste von Vermissten – mindestens 7 000 Fälle sind noch ungeklärt, wobei diejenigen, die vermutlich unter den Trümmern begraben sind, noch gar nicht mitgezählt sind, berichtet IKRK-Chefsprecher Christian Cardon.
Es gibt viele Möglichkeiten, während des Chaos der Bombardierungen, der Angriffe auf Gebäude und der Massenvertreibung fast aller 2,3 Millionen Einwohner*innen Gazas zu verschwinden. Hunderte wurden an israelischen Kontrollpunkten festgenommen oder bei Überfällen ohne Benachrichtigung ihrer Familien zusammengetrieben. Von einer UN-Behörde und großen Menschenrechtsorganisationen beauftragte Expert*innen haben Israel des Völkermords bezichtigt, was Israel vehement bestreitet.
Während der israelischen Bodenoffensive wurden Leichen auf den Straßen zurückgelassen. Palästinenser*innen wurden erschossen, als sie sich israelischen Militärzonen zu sehr näherten, und ihre Leichen wurden Wochen oder Monate später in verwesendem Zustand gefunden.
Das israelische Militär hat eine unbekannte Anzahl von Leichen mitgenommen und behauptet, es suche nach israelischen Geiseln oder Palästinenser*innen, die es als Militante identifiziert. Israel schickte mehrere hundert Leichen ohne Identifizierung nach Gaza zurück, wo sie in anonymen Massengräbern beigesetzt wurden.
Die Suche nach Vermissten erfordert laut Bomberger, Generaldirektorin der Internationalen Kommission für vermisste Personen, fortschrittliche DANN-Technologie, Proben von Familienangehörigen und nicht identifizierten Leichen sowie Luftbilder, um Grabstätten und Massengräber zu lokalisieren. „Das ist ein enormes Unterfangen“, sagt sie.
Israel hat jedoch laut Bomberger und dem Gesundheitsministerium von Gaza die Einfuhr von DANN-Testmaterial nach Gaza eingeschränkt. Die israelischen Militärbehörden wollten sich auf Nachfrage nicht sofort dazu äußern, ob dies verboten sei.
Bomberger sagt, es liege in der Verantwortung des Staates, vermisste Personen zu finden – in diesem Fall Israels als Besatzungsmacht. „Es hängt also vom politischen Willen der israelischen Behörden ab, etwas dagegen zu unternehmen.“
Der Geruch ihres Sohnes
Fadwa al-Ghalban hat seit Juli nichts mehr von ihrem 27-jährigen Sohn Mosaab gehört, als er sich auf den Weg machte, um Lebensmittel aus dem Haus ihrer Familie zu holen, in der Annahme, dass die israelischen Truppen das Gebiet in der Nähe der südlichen Stadt Maan bereits verlassen hätten.
Seine Cousins, die in der Nähe waren, sahen Mosaab auf dem Boden liegen. Sie riefen seinen Namen, aber er antwortete nicht, und da israelische Truppen in der Nähe waren, war es zu gefährlich, sich ihm zu nähern, und sie flüchteten. Sie nahmen an, dass er tot war.
Als sie später zurückkehrten, fanden die Familienmitglieder keine Leiche, nur seine Sandalen. Seine Familie hat in den sozialen Medien Aufrufe veröffentlicht, in der Hoffnung, dass jemand Mosaab in israelischer Haft gesehen oder ihn begraben hat.
Al-Ghalban lebt von der Hoffnung. Ein anderer Verwandter galt als tot, doch vier Tage, nachdem die Familie offiziell Beileidsbekundungen entgegengenommen hatte, erfuhren sie, dass er sich in einem israelischen Gefängnis befindet. Unabhängig vom Schicksal ihres Sohnes „brennt ein Feuer in meinem Herzen“, sagt al-Ghalban. „Selbst wenn jemand ihn begraben hätte, wäre das viel leichter zu ertragen als dieses Feuer.“
Menschenrechtsgruppen sagen, Israel lasse Hunderte von Palästinenser*innen aus Gaza „verschwinden“ und halte sie ohne Anklage oder Gerichtsverfahren fest, oft ohne Kontakt zur Außenwelt. Israel veröffentlicht die Zahl der Inhaftierten nicht, außer auf Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz. Nach einer Kriegsrevision des israelischen Rechts können Häftlinge aus Gaza ohne gerichtliche Überprüfung 75 Tage lang festgehalten und noch länger ohne Anwalt bleiben. Die Vorführung vor einem Richter findet in der Regel geheim per Video statt.
Die israelische Menschenrechtsorganisation Hamoked hat Unterlagen erhalten, aus denen hervorgeht, dass im September 2 662 Palästinenser*innen aus Gaza in israelischen Gefängnissen festgehalten wurden, zusätzlich zu einigen hundert weiteren, die in Armeeeinrichtungen inhaftiert sind, in denen Menschenrechtsorganisationen, die UNO und Häftlinge regelmäßig Misshandlungen und Folter gemeldet haben.
Alles, was al-Ghalban von ihrem Sohn geblieben ist, ist seine letzte Kleidung. Sie weigert sich, sie zu waschen. „Ich rieche immer wieder daran. Ich möchte seinen Geruch in Erinnerung behalten“, sagt sie mit tränenerstickter Stimme. „Ich stelle mir immer wieder vor, dass er zurückkommt und auf mich zugeht. Ich sage mir, dass er nicht tot ist.“
Nur ein Ring
Da die meisten Bulldozer in Gaza zerstört sind, müssen Familien selbst in den Trümmern graben, in der Hoffnung, wenigstens die Gebeine ihrer verlorenen Angehörigen zu finden.
Khaled Nassars Tochter Dalia (28) und sein Sohn Mahmoud (24) wurden bei verschiedenen Luftangriffen getötet und liegen unter den Trümmern ihres Hauses im Flüchtlingslager Jabaliya begraben. Rettungskräfte konnten Jabaliya, das wiederholt von Luftangriffen, Überfällen und Bodenoffensiven getroffen wurde und nun unter israelischer Militärkontrolle steht und gesperrt ist, größtenteils nicht erreichen.
Dalia und ihr Mann wurden am 9. Oktober 2023, dem dritten Tag des Krieges, in ihrem Haus getötet. Ihre Kinder überlebten. Sie leben jetzt bei ihrem Großvater. „Wir haben gesucht, aber wir konnten sie nicht finden“, berichtet Nassar. „Sie schien sich mit der Rakete aufgelöst zu haben.“
Ein Jahr später griff Israel das Haus der Familie an und begrub seinen Sohn Mahmoud, der nach der Evakuierung der Familie zurückgekehrt war, um sich zu waschen.
Als im Januar der Waffenstillstand begann, machten sich Nassar und seine Frau Khadra auf die Suche nach ihm. Jeden Tag grub der 60-jährige Vater von zehn Kindern, ein ehemaliger Bauarbeiter, mit Hammer, Schaufel und kleinen Werkzeugen in den Trümmern. Seine Frau trug Eimer mit Sand und Trümmern weg. Sie gruben sich durch die Hälfte des Hauses und fanden nichts. Dann brach Israel im März den Waffenstillstand und sie mussten erneut fliehen.
Khadra weigert sich, aufzugeben. Wenn es einen neuen Waffenstillstand gibt, wird sie weitergraben, sagt sie, „auch wenn ich nur (Mahmouds) Ring an seinem Finger oder ein paar Knochen finde, die ich in ein Grab legen kann. Aber dann hat mein Sohn immerhin ein Grab.“

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