The Guardian: Ein Nachmittag in Gaza, zwei Familientragödien: durch israelische Luftangriffe zerstörte Kinderleben
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Das Trauma der Angehörigen über die Ereignisse vom 23. Mai spiegelt die tägliche Realität in Gaza wider: die Tötung und Verstümmelung seiner kleinsten Bewohner*innen.
Von Lorenzo Tondo (Jerusalem) und Malak A Tantesh (Gaza), The Guardian, 30. Mai 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Gegen 15.00 Uhr am vergangenen Freitag erhielt Dr. Alaa al-Najjar, Kinderärztin im Nasser-Krankenhaus in Khan Younis, die verkohlten Überreste von sieben ihrer zehn Kinder, die bei einem israelischen Luftangriff getötet worden waren. Die Leichen von zwei weiteren Kindern waren noch immer unter den Trümmern begraben.
Ein paar Kilometer weiter wurde die elfjährige Yaqeen Hammad, die als jüngste Social-Media-Influencerin des Gazastreifens bekannt ist, getötet, nachdem eine Reihe schwerer israelischer Luftangriffe das Haus getroffen hatte, in dem sie mit ihrer Familie lebte. Sie goss gerade Blumen in einem winzigen grünen Fleckchen in einem Vertriebenenlager, als sie starb. Ihr Cousin, der 16-jährige Eyad, wurde schwer verletzt.
Selbst nach den schrecklichen Maßstäben des Gaza-Krieges hatten diese Todesopfer die Kraft, zu schockieren. Aber sie spiegeln auch die tägliche Realität in dem Gebiet wider: die Tötung und Verstümmelung der kleinsten Bewohner*innen und die Zerstörung einer ganzen Generation.
Nach Angaben der örtlichen Gesundheitsbehörden, deren Schätzungen von der internationalen Staatengemeinschaft im Allgemeinen als zutreffend angesehen werden, sind in den 19 Monaten seit Kriegsbeginn mehr als 16 500 Kinder getötet worden - eine Zahl, die fast 24 Mal höher ist als die Zahl der Kinder, die in der Ukraine, wo die Bevölkerung 20 Mal größer ist, seit dem Einmarsch Russlands getötet wurden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht von 15 613 getöteten Kindern.
Kollegen von Dr. al-Najjar berichten, dass sie in den Tagen, seit sie ihre Kinder verloren hat, ihre wachen Stunden weinend vor einem Zimmer im Nasser-Krankenhaus verbracht hat. Dort liegt ihr einziges überlebendes Kind, der 11-jährige Adam, der mit Hilfe eines Beatmungsgeräts um sein Leben kämpft. Seine Atmung ist sehr schwach und mehr als 60 Prozent seines Körpers sind mit Verbrennungen übersät.
Najjars Ehemann Hamdi, ein 40-jähriger Arzt, überlebte den Angriff ebenfalls, erlitt aber schwere Verletzungen, darunter Hirnschäden und durch Schrapnell verursachte Frakturen. [Dr. Hamdi al-Najjar ist am Sonntag, zwei Tage nach Entstehung dieses Berichts, an seinen Verletzungen gestorben, Anm.]
Die israelische Armee erklärte gegenüber dem Guardian, dass „das Gebiet von Khan Younis ein gefährliches Kriegsgebiet ist“ und dass „die Behauptung, dass unbeteiligte Zivilist*innen zu Schaden gekommen sind, derzeit geprüft wird“.
Der italienischen Zeitung La Repubblica gegenüber äußerte Adams Onkel, Ali al-Najjar, 50, einen verzweifelten Appell: „Adam muss weggebracht werden, in ein richtiges Krankenhaus, außerhalb des Gazastreifens. Ich flehe die italienische Regierung an - tun Sie etwas. Nehmt ihn mit. Bitte Italien, rettet ihn.“
Am Donnerstag erklärte Italiens Außenminister Antonio Tajani, das Land sei bereit, Adam medizinisch zu versorgen und arbeite daran, seine Evakuierung zu organisieren.
In demselben Krankenhaus, in dem Adam behandelt wird, liegt Eyad auf dem Flur. Sein Vater – und Yaqeens Onkel – ist Hussein Hassan, ein 46-jähriger Rettungssanitäter des Roten Halbmonds. Hassan sagte, er habe in der Notaufnahme des Krankenhauses gearbeitet, als er den Anruf erhielt, dass sein Sohn verletzt und seine Nichte durch eine Rakete getötet worden sei.
Hassan sagte, die Familie habe keine Warnung erhalten, dass ein Angriff bevorstehe, und er frage sich, warum eine Rakete abgefeuert werde, die Kinder beim Gießen und Pflanzen von Blumen treffe. „Wie kann das sein? Die Kinder sind doch noch viel zu jung, als dass sie als Ziel in Frage kommen“, sagt er. „Befand sich ein Zielfahrzeug in der Nähe? Oder wurde jemand verfolgt, der auf der Straße vorbeikam? Ich weiß es nicht.“
Als sich die Nachricht von Yaqeens Tod am Montag im Internet verbreitete, gab es eine Welle der Trauer und des Beileids von Aktivist*innen, Followern und Journalist*innen. „Yaqeen war fröhlich und voller Energie“, sagt Hassan. „Aufgrund meiner Arbeitsbelastung hatte ich sie einen Monat vor ihrem Tod nicht mehr gesehen - und das hat am meisten geschmerzt, dass ich sie zum letzten Mal gesehen habe, als sie in ein weißes Leichentuch gehüllt war. Ich verabschiedete mich von ihr in der Leichenhalle des Al-Aqsa Krankenhauses in Deir-al Balah und trug dann ihren kalten Körper in den Krankenwagen, um ihn zur Beerdigung zu transportieren. Ihre Familie ist am Boden zerstört - sie war das Nesthäckchen, das Baby der Familie.“
Eyad liegt weiterhin auf der Intensivstation des Nasser-Krankenhauses. Er hat bei dem Angriff sein linkes Auge verloren und eine gebrochene Schulter erlitten. Als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, steckten Granatsplitter in verschiedenen Teilen seines Körpers.
„Es brach mir das Herz, ihn in diesem Zustand zu sehen - mein Sohn, der jetzt vor meinen Augen im Krankenhaus liegt“, sagt Hassan. „Yaqeens Geschichte ist wie die so vieler Kinder in Gaza, die im Krieg getötet wurden, getötet ohne Grund. Sie sind nicht nur Zahlen - jedes Kind hat eine Geschichte, ein Leben und Familien, denen der Verlust das Herz bricht.“
Die israelische Armee erklärte, sie prüfe die Umstände des Angriffs.
Drei Tage später erlitt eine andere Familie in Gaza-Stadt einen weiteren unvorstellbaren Verlust. Die Mutter der sechsjährigen Ward Khalil und zwei ihrer Geschwister gehörten zu den Dutzenden von Palästinensern, die bei israelischen Angriffen auf die Fahmi al-Jarjawi-Schule getötet wurden. Erschütternde Aufnahmen zeigten, wie Ward den Ort des Angriffs verließ, ihr Körper zeichnete sich von den Flammen ab, die die Schule verschlungen hatten.
Am nächsten Tag gab Ward Al Jazeera ein Interview, in dem sie von den Schrecken berichtete, die sie erlebt hatte. „Als ich aufwachte, fand ich ein riesiges Feuer vor und sah, dass meine Mutter tot war“, sagte sie. „Ich bin ins Feuer gelaufen, um zu entkommen ... Ich war im Feuer und die Decke fiel auf mich. Die ganze Decke stürzte ein. Das Feuer brannte lichterloh.“
Aufgrund der israelischen Blockade leiden die Kinder im Gazastreifen unter katastrophalem Hunger.
Nach Angaben von Hilfsorganisationen sind palästinensische Kinder die Hauptleidtragenden einer israelischen Blockade von Hilfsgütern, die seit fast drei Monaten den Zustrom von Lebensmitteln und humanitärer Hilfe in das Gebiet weitgehend unterbindet.
Die Folgen sind verheerend: Letzte Woche starben innerhalb von 48 Stunden 29 Kinder und ältere Menschen an Hunger, wie der Gesundheitsminister der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland, Majed Abu Ramadan, mitteilte. Die Integrierte Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphase (Integrated Food Security Phase Classification, IPC) schätzte im Mai, dass bis März nächsten Jahres fast 71 000 Kinder unter fünf Jahren akut unterernährt sein werden. Davon werden voraussichtlich 14 100 Fälle besonders schwerwiegend sein.
Nach Angaben der UN-Kinderhilfsorganisation UNICEF wurden in diesem Jahr mehr als 9 000 Kinder in Gaza wegen Unterernährung behandelt. „Diese Kinder – Leben, die niemals auf Zahlen reduziert werden sollten – sind nun Teil einer langen, erschütternden Liste von unvorstellbaren Schrecken“, so UNICEF in einer Erklärung diese Woche. „Die Kinder in Gaza brauchen Schutz“, hieß es weiter. „Sie brauchen Nahrung, Wasser und Medizin. Sie brauchen einen Waffenstillstand. Aber mehr als alles andere brauchen sie sofortige, kollektive Maßnahmen, um dies ein für alle Mal zu beenden.“

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