top of page

The New Yorker: Brief aus Gaza: Krankenhäuser in Trümmern

  • office16022
  • 23. Apr.
  • 19 Min. Lesezeit

Ärztinnen und Ärzte leisten lebensrettende Hilfe in einem zerstörten Gesundheitssystem - und riskieren dabei ihr eigenes Leben.


Von Clayton Dalton, The New Yorker, 18. April 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache und dazugehörendem Bildmaterial: https://www.newyorker.com/magazine/2025/04/28/hospitals-in-ruins)

 

Am 29. Januar, zwei Wochen nachdem Israel und die Hamas einen Waffenstillstand vereinbart hatten, reiste ich im Rahmen einer zwölfköpfigen medizinischen Mission in den Gazastreifen ein. Nachdem wir den Süden Israels in einem UN-Konvoi durchquert hatten, folgten wir einer israelischen Militäreskorte durch ein Labyrinth von Betonsperren. Dann stiegen wir aus unseren Fahrzeugen aus und schleppten Koffer voller lebenswichtiger Dinge – Mull, Antibiotika, Katheter, Wundscheren – durch eine metallene Panzertür. Wir passierten ein Niemandsland aus Stacheldraht, in dem unglaublicherweise Löwenzahn wuchs. Schließlich kletterten wir in einen Lieferwagen mit einer zerbrochenen Windschutzscheibe und fuhren nach Khan Younis, einer Stadt mit mehreren Hunderttausend EinwohnerInnen im Süden des Gazastreifens. Unser Fahrer musste immer wieder Kratern ausweichen; fast jedes Gebäude, an dem wir vorbeikamen, war zerstört. An einer Kreuzung stand ein Minarett über einer zerstörten Moschee. Trotzdem gab es Leben in der Stadt. Ich sah eine Familie, die in einem Gebäude ohne Dach Tee trank. Wäsche flatterte von Balkonen, und im Innenhof eines zerstörten Gebäudes wuchs Salat. Fast die Hälfte der zwei Millionen EinwohnerInnen von Gaza sind Kinder, und sie waren überall - lachend, winkend, Papierdrachen fliegend.


Als ich mich Ende 2024 für einen Freiwilligendienst in Gaza anmeldete, führte das israelische Militär mehr oder weniger täglich Boden- und Luftangriffe durch. Die verwundeten PatientInnen überforderten das kaum noch funktionierende Gesundheitssystem der Region. Ich rechnete damit, mich in einem einzigen Krankenhaus niederzulassen und zwei Wochen lang bei der Behandlung der PatientInnen zu helfen. Als ich ankam, hatten sich die israelischen Streitkräfte jedoch aus Teilen des Gazastreifens zurückgezogen, die Luftangriffe waren weitgehend eingestellt, und die vertriebenen Familien kehrten an jene Orte zurück, aus denen sie geflohen waren. Das bedeutete, dass unser Blick nicht nur auf das Innere eines Gebäudes beschränkt war. Ich konnte mir ein ungewöhnlich vollständiges Bild vom Zustand der medizinischen Infrastruktur in Gaza machen.


Wir verbrachten die Nacht im Nasser-Krankenhaus, einem fünfstöckigen, beige-braunen Gebäude in Khan Younis. Als wir dort vorfuhren, rief ein Passant, der uns als internationale humanitäre Helfer erkannte, durch das Fenster unseres Wagens eine Bitte zu: „Bleiben Sie bei uns! Kommen Sie nicht einfach und gehen Sie wieder. Hier passiert Unmenschliches!“ Nasser war im Februar 2024 Schauplatz eines schweren Angriffs gewesen, als das israelische Militär das Krankenhaus beschoss, Strom und Sauerstoff abschaltete und das Gebäude stürmte. Ein Arzt berichtete CNN, dass er einer Leibesvisitation unterzogen wurde. „Wir sind völlig belagert“, sagte er. „Wir haben keinen Strom, keinen Sauerstoff, keine Heizung und kaum Nahrung oder Wasser.“ Das Gesundheitsministerium von Gaza berichtete, dass ein Dutzend PatientInnen infolge des Angriffs gestorben sind; die Weltgesundheitsorganisation warnte davor, dass „eine weitere Unterbrechung der lebensrettenden Versorgung der Kranken und Verletzten zu weiteren Todesfällen führen würde.“


Die israelische Armee erzählte eine andere Geschichte. Es gab an, in Nasser neben Medikamenten, die für israelische Geiseln bestimmt waren, auch Waffen gefunden zu haben. Sie behauptete auch, Hunderte von Terrorverdächtigen festgenommen zu haben, darunter einige, die sich als medizinisches Personal ausgegeben oder als solches gearbeitet hätten. „Die Operation wurde so durchgeführt, dass der laufende Betrieb des Krankenhauses möglichst wenig gestört wurde und PatientInnen und medizinisches Personal nicht zu Schaden kamen“, hieß es in einer Erklärung. „Die israelische Armee wird weiterhin im Einklang mit dem Völkerrecht gegen die terroristische Hamas-Organisation vorgehen, die systematisch von Krankenhäusern aus operiert.“ In den sechsunddreißig Krankenhäusern des Gazastreifens hat sich diese Dynamik wieder und wieder abgespielt. Die israelische Armee rechtfertigt die Bombardierung und Plünderung von Krankenhäusern, die als Kriegsverbrechen gelten können, indem es der Hamas Kriegsverbrechen vorwirft: Sie verwandle medizinische Zentren in „Terror-Drehscheiben“ und verstecke sich hinter ziviler Infrastruktur. Die israelischen Behörden liefern jedoch kaum ausreichende Beweise, damit Nachrichtenagenturen und internationale Organisationen ihre Behauptungen überprüfen können. Die Hamas hat stets bestritten, Gesundheitseinrichtungen für militärische Zwecke zu nutzen.


Nasser war weitgehend wiederhergestellt worden, aber die Spuren der Gewalt waren überall zu sehen. Auf einem angrenzenden Feld lagen die verbogenen und verkohlten Überreste von Krankenwagen. Auf einem Balkon außerhalb unseres Schlafquartiers zeigte uns ein palästinensischer Arzt die Einschusslöcher von Scharfschützen, die seines Dafürhaltens nach auf ihn und seine Kollegen abgefeuert worden waren. Ein Chirurg aus unserem Team erzählte, dass er bei einem früheren Einsatz einen menschlichen Fingerknochen auf dem Krankenhausgelände gefunden hatte; da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, hatte er ihn vergraben.


Am nächsten Tag wurden einige von uns zum zehn Kilometer entfernten Al-Aqsa-Märtyrer-Krankenhaus im Zentrum von Gaza gefahren. Auf dem Weg nach Norden sahen wir ganze Häuserblocks, die dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Hunderte von improvisierten Unterkünften – zusammengeschustert aus Blechen, Autotüren, Teppichen und Planen – waren inmitten von Betonplatten errichtet worden. Die Menschen sortierten die Trümmer auf Haufen; wir kamen an einem Mann vorbei, der die Straße mit einem Besen fegte.


Al-Aqsa, eine Ansammlung von mit Schrapnellnarben übersäten gelben Backsteingebäuden in einem dichten Wohnviertel, wurde ursprünglich für die Unterbringung von ein paar hundert PatientInnen gebaut. Dann brachten Luftangriffe, eine Bodeninvasion der israelischen Armee und schwere Kämpfe mit militanten Palästinensern fast eine Million Menschen in das Gebiet. Die Einrichtung nahm manchmal mehr als tausend PatientInnen pro Tag auf, und häufig gingen ihr der Treibstoff und die Vorräte aus. Auch Al-Aqsa wurde zum Ziel. Luftangriffe trafen einen Innenhof, in dem Tausende von Menschen in Zelten Zuflucht gefunden hatten. Die israelische Armee erklärte, das Krankenhaus beherberge eine Kommandozentrale der Terroristen.

Unser Führer in Al-Aqsa war ein stämmiger fünfunddreißigjähriger Orthopäde namens Mohammad Shaheen. Er scherzte, der Konflikt sei gut für seine Figur gewesen – er habe dreißig Kilo abgenommen. Er schob die Tür eines riesigen Metallschuppens auf, der als provisorische Krankenstation diente. „Wir haben sie in zehn Tagen gebaut“, sagte er. Jetzt war es dunkel, und in den Ecken standen leere Bahren. „Wir gehen vom Trauma zum Wiederaufbau über“, erklärte er mir. Unzählige Menschen aus dem Gazastreifen brauchten medizinische Versorgung für frühere Verletzungen und unbehandelte Krankheiten. Ganze Stadtteile müssen von Schutt und nicht explodierten Sprengkörpern befreit werden.


Die Notaufnahme der Al-Aqsa war ein schwach beleuchteter Raum mit etwa fünfzehn Betten. Zu meiner Überraschung war nur in einem ein Patient untergebracht. Mein Fachgebiet, die Notfallmedizin, war hier seit dem Beginn des Waffenstillstands offenbar nicht sehr gefragt. Der Direktor von Al-Aqsa schlug vor, dass ich, anstatt eine unheimlich ruhige Notaufnahme zu besetzen, vielleicht den Zustand der Krankenhäuser in Gaza dokumentieren sollte. „Wir verdienen ein besseres Leben als dieses“, sagte er.


An diesem Nachmittag sah ich im Operationssaal einen jungen Mann, dessen linke Hand verstümmelt worden war. Ein Chirurg schrubbte sich die Hände und erklärte mir, was passiert war: Der Mann war in die Trümmer seines Hauses zurückgekehrt und eine Bombe war explodiert. Es gab keine Stauschläuche, also hatte man ihm einen Blasenkatheter um den Arm gebunden, um die Blutung zu stillen. Es gab auch keine Krankenhauskittel, so dass er einen roten Rollkragenpullover trug, als ein Anästhesist ihn narkotisierte.


Im oberen Stockwerk befand sich die Intensivstation. Auf der Tür, die verschlossen war, hatte jemand mit roter Farbe „ICU“ geschrieben. Draußen auf dem Flur öffnete ein Mann die Tür mit einem Löffel. Drinnen behandelte einer meiner Kollegen, ein bärtiger Intensivmediziner namens Shiraz Saleem, ein Mädchen im Teenageralter mit diabetischer Ketoazidose, einer lebensbedrohlichen Komplikation von Diabetes, die durch Insulinmangel verursacht wird. Die Ärzte hatten jedoch Schwierigkeiten, ihren Blutzucker zu überwachen, weil sie kein Glukometer hatten, ein Gerät, das amerikanische Apotheken für etwa zwanzig Dollar verkaufen.

Auf der Kinderstation, einem beengten Raum mit Comicfiguren an den Wänden, weinte die neunjährige Mariam leise, während ein anderer Kollege sie untersuchte. Ihr Haar war fein säuberlich geflochten und mit einem gelben Haargummi zusammengebunden. Mariam hatte nach einem Luftangriff einen Arm durch Amputation verloren, und Schrapnell hatte ein Loch zwischen ihrer Blase und ihrem Rektum gerissen. Sie hatte bereits fünf Operationen hinter sich. In einem Bett neben ihr lag ein dreijähriger Junge, der operiert werden musste, nachdem er bei einem Luftangriff verletzt worden war; sein fünfjähriger Bruder war bei dem Angriff getötet worden. Der Junge litt an einer infizierten Operationswunde. „Es fühlt sich einfach nicht real an“, sagte Saleem später zu mir. „Wie kann etwas so Schreckliches real sein?“


Am Abend zeigte mir ein palästinensischer Urologe auf seinem Handy Fotos von PatientInnen, die er behandelt hatte. Ich sah einen jungen Mann, dem von einem israelischen Scharfschützen in die Leiste geschossen worden war, eine fünfunddreißigjährige Frau mit einer Explosionsverletzung in der Vagina, einen Mann, dessen Hodensack zerfetzt worden war. Das Gesicht des Urologen, das vom Schein dieser Bilder erhellt wurde, war aschfahl. Er scrollte weiter, immer tiefer in die Vergangenheit, bis seine Bilder plötzlich eine andere Realität zeigten – Fotos von Familientreffen, von Kindern, die im Gras laufen.


Am 7. Oktober 2023 drangen Tausende von Kämpfern unter Führung der Hamas nach Israel ein und verübten zahlreiche sorgfältig geplante Anschläge auf ZivilistInnen, von denen viele an einem Musikfestival teilnahmen. Bewaffnete Männer auf Motorrädern und in Pickups umzingelten die fliehenden Menschen und eröffneten das Feuer. In nahe gelegenen Kibbuzim gingen sie von Haus zu Haus, erschossen einige BewohnerInnen und entführten andere. Etwa zwölfhundert Menschen wurden getötet, darunter mehrere Dutzend Kinder, und mehr als zweihundertfünfzig Menschen im Alter von neun Monaten bis fünfundachtzig Jahren wurden als Geiseln genommen. (Neunundfünfzig Geiseln befinden sich noch im Gazastreifen; vierundzwanzig sollen noch am Leben sein.) Israel und der Rest der Welt wurden mit Bildern von den blutigen Folgen geflutet; einige zeigten bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leichen. Am Ende des Tages sprachen die israelischen Führer nicht nur von Gerechtigkeit, sondern auch von Vergeltung. „Wir werden mächtige Rache für diesen schwarzen Tag nehmen“, erklärte Premierminister Benjamin Netanjahu. „Alle Orte, an denen sich die Hamas versteckt und von denen aus sie operiert, werden wir in Trümmerstädte verwandeln.“


Die israelischen Streitkräfte haben inzwischen mehr Sprengstoff auf den Gazastreifen abgeworfen als im Zweiten Weltkrieg auf London, Dresden und Hamburg zusammen abgeworfen wurde. Mehr als fünfzigtausend PalästinenserInnen sind getötet worden. Auch die Krankenhäuser sind nicht verschont geblieben; die meisten sind nicht mehr funktionsfähig. Wenige Wochen vor meiner Reise meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass mehr als tausend MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens getötet worden waren und dass sie 64 Angriffe auf medizinische Einrichtungen in Gaza verifiziert hatte. Der Gesundheitssektor des Gebiets werde „systematisch zerstört“, sagte ein Vertreter der WHO. Erst letzten Monat wurden israelische Soldaten dabei gefilmt, wie sie das Feuer auf Krankenwagen im südlichen Gazastreifen eröffneten und fünfzehn Rettungskräfte töteten. Ein Sprecher der israelischen Armee behauptete zunächst, die Fahrzeuge hätten sich „verdächtig auf die israelischen Truppen zubewegt, ohne Scheinwerfer oder Notsignale“, aber die Armee nahm diese Aussage zurück und leitete eine Untersuchung ein, nachdem von der Times veröffentlichtes Filmmaterial einen uniformierten Sanitäter neben stillstehenden und deutlich gekennzeichneten Krankenwagen zeigte, gefolgt von fünf Minuten Schüssen der israelischen Armee.


Seit dem 7. Oktober ist die Berichterstattung aus dem Gazastreifen extrem eingeschränkt. Nach Angaben des Komitees zum Schutz von JournalistInnen wurden in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten mindestens neunundsechzig Medienschaffende getötet – einer von ihnen letztes Jahr in einem Medienzelt vor dem Al-Aqsa-Krankenhaus, ein anderer Anfang dieses Monats in der Nähe des Nasser-Krankenhauses. Als ich dort war, kam mir die bloße Tatsache, dass ich das Krankenhaus verlassen konnte, surreal vor.


Eines Abends machte ich mit Saleem, Shaheen und einem zweiundzwanzigjährigen Medizinstudenten einen Spaziergang. Wir kamen an Händlern vorbei, die nicht zusammenpassende Schuhe und frisch eingetroffene Produkte verkauften. Ich sah einen Mann auf einem Friseurstuhl, der sich die Haare schneiden ließ. In der Ferne ertönten einige Schüsse aus automatischen Waffen - Gangs, wie man mir sagte. Ich hörte Vogelgezwitscher und sah mich um; drei Metallkäfige waren an der Seite eines Zeltes befestigt, in denen jeweils ein kleiner Vogel saß. Dann kamen wir zu einer verlassenen Schule, die als Unterkunft für Vertriebene gedient hatte. Eine Gruppe von Kindern trat aus dem Schatten hervor. „Guten Tag!“, rief ein Junge. Die Kinder führten uns auf das Dach und zeigten auf ein Feld mit frisch gepflanzten Olivenbäumen - ein schöner, hoffnungsvoller Anblick. Bevor Saleem und ich die Schule verließen, rannte ein Junge, dessen Name Ali war, auf uns zu, schlang seine Arme um jeden von uns und schwang seine geschwärzten Füße, als wären sie ein Pendel. Sein Lachen hallte durch die Schule.


Am nächsten Morgen brachte mich der Medizinstudent zu einer Krankenwagenstation in der Nähe von Al-Aqsa. Jeder Krankenwagen zeigte Anzeichen von Beschädigungen. Ein sechzigjähriger Sanitäter erzählte mir, dass nach der Bombardierung eines Gebäudes oft Drohnen über dem Gebäude kreisten und die Rettungskräfte Angst hatten, das Gebäude zu betreten, bis die Drohnen abgezogen waren. Ich fragte die Sanitäter, was das Schlimmste an dieser Arbeit sei. Auf einen Luftangriff zu reagieren und festzustellen, dass es die eigene Familie ist, sagte einer. Die Leichen von Kindern zu bergen, sagte ein anderer. Er hielt inne und fügte dann hinzu: „Es ist schon seltsam, dass die Welt zulässt, dass uns so etwas passiert.“

Der Medizinstudent brachte mich auch in die orthopädische Abteilung. „Explosionsverletzungen sind kontaminiert“, erklärte ein Orthopäde und zündete sich eine Zigarette an. „Wir machen Schadensbegrenzung.“ Man könne Knochen nicht mit Platten und Schrauben reparieren, sagte er, weil sich die Wunde infizieren würde. Stattdessen stießen die Ärzte bei der so genannten externen Fixierung Metallstifte durch die Haut in den Knochen, die an einem Gerüst außerhalb des Körpers befestigt wurden. Die daraus resultierende Infektionsrate lag immer noch bei bis zu achtzig Prozent. Da es im Krankenhaus keine Kochsalzlösung für die Wundspülung gab, mischten die Ärzte Leitungswasser mit Chlor, das eigentlich für Schwimmbäder bestimmt war.

An diesem Tag wurde ein junger Mann in einem ehemaligen Untersuchungszimmer operiert. Ein Chirurg erklärte, eine Drohne habe dem Mann in den Oberschenkel geschossen und seinen Oberschenkelknochen zersplittert. Eine externe Fixierung hatte den Bruch stabilisiert, aber der Knochen hatte sich unkontrollierbar entzündet. Der Chirurg verscheuchte eine Fliege und hielt dann die Wunde offen, um mir die scharfen, gebrochenen Enden des Knochens zu zeigen. Er plante eine extreme Form der Amputation, die so genannte Exartikulation der Hüfte [unter einer Hüftexartikulation versteht man die Amputation eines ganzen Beines im Hüftgelenk, Anm.]; sollte der Patient überleben, würde er wahrscheinlich nie wieder laufen können.


Schätzungsweise sechsundzwanzigtausend Menschen wurden in Gaza einer externen Fixierung unterzogen, und viele werden noch Jahre auf eine Folgeoperation warten. „Es wird ein elendes Leben für sie sein“, so der Orthopäde. Er zeigte mir ein Foto der verstümmelten Füße eines Patienten, die amputiert werden mussten. Dann schwenkte er zu einem Foto einer silbernen Rakete, die vor seinem Haus aus dem Boden ragte. Auf der Seite war „GBU-39“ aufgedruckt. Später habe ich es nachgeschlagen. Es handelte sich um eine zweihundertfünfzig Pfund schwere amerikanische Lenkwaffenmunition, hergestellt von Boeing.


Die schlimmsten Zerstörungen gab es im Norden des Gazastreifens, der auf manchen Fotos wie Hiroshima nach der Atombombe aussah. Laut CNN wurden die meisten der zweiundzwanzig Krankenhäuser im Norden direkt angegriffen. Ich hörte immer wieder, dass Al-Shifa, das wichtigste Lehr- und Referenzkrankenhaus in Gaza, völlig zerstört worden war. Am Morgen meines fünften Tages machte ich mich mit Ahmed Alassouli, einem der Koordinatoren der medizinischen Mission, über die Al-Rashid-Straße, die am Mittelmeer entlangführt, zu Fuß auf den Weg. Wir hofften, die wichtigsten Krankenhäuser im Norden besuchen zu können, was seit dem 7. Oktober kaum einem Außenstehenden gelungen war; die israelische Armee hatte ausländischen JournalistInnen den Besuch nicht gestattet, und das medizinische Personal blieb aus Sicherheitsgründen oft in einem einzigen Krankenhaus. Zu unserer Linken konnten wir glitzernde Wellen und Fischer sehen, die ihre Netze auslegten. Zu unserer Rechten befand sich Ödland. In der Ferne stieg schwarzer Rauch auf, und auf dem Dach eines zerbombten Gebäudes wehte eine weiße Fahne im Wind.


Nachdem wir ein paar Stunden gegangen waren, gelang es Alassouli, ein Auto anzuhalten, und wir kletterten in einen Metallanhänger, der hinten angehängt war. Ein Mann, der neben mir saß, öffnete eine Packung Kekse und bot mir einen an. Am Stadtrand von Gaza-Stadt kletterten wir in einen verbeulten SUV. Ich sah, wie eine Frau einen Eimer Schmutz aus einem offenen Fenster kippte; ein Mann rauchte in einer Wohnung, in der eine Wand fehlte.


Die Notaufnahme des Kamal-Adwan-Krankenhauses im Norden von Gaza-Stadt war als Gesundheitseinrichtung nicht wiederzuerkennen. Wir wurden von Ezz begleitet, einem zierlichen dreiundzwanzigjährigen Medizinstudenten mit dunklem, gewelltem Haar, der im Norden unser Dolmetscher sein würde. Die israelische Armee hat behauptet, Kamal Adwan sei eine militärische Kommandozentrale der Hamas. Während einer Invadierung der israelischen Armee im Dezember 2024 wurde das Krankenhaus von einem Feuer verwüstet; ich konnte sehen, wie der Rauch aus den zerbrochenen Fenstern drang und das Äußere schwarz färbte. Ich setzte mir eine chirurgische Maske auf und folgte einem Chirurgen namens Sakher Hamad ins Innere. Ein giftiger Geruch durchzog den Raum, und zerbrochene Glasfläschchen knirschten unter unseren Füßen. Wir benutzten unsere Handys, um den Weg zu beleuchten. Ezz zeigte auf einen Raum, in dem er während des Krieges eine standardisierte klinische Prüfung abgelegt hatte. Es enthielt nur noch geschwärzte Bettgestelle. Hamad führte mich die Treppe hinauf zu den Entbindungsstationen. Auch sie waren verbrannt. In der Neugeborenen-Intensivstation, der letzten dieser Art im nördlichen Gazastreifen, lagen zerstörte Inkubatoren auf dem Boden verstreut. Nach der Zerstörung der Intensivstation hatte Israel ein Video veröffentlicht, auf dem zu sehen war, dass in einem Inkubator angeblich Waffen gefunden worden waren.


In einem anderen Flügel zeigte uns Hamad drei verkohlte Operationssäle. Ein Lichtstrahl fiel durch einen Riss in der Decke. Der ebenfalls zerstörte Dialyseflügel befand sich am Ende des Flurs. Wir verließen das Krankenhaus durch den einstigen Haupteingang, der jetzt ein Loch in der geschwärzten, bröckelnden Fassade war. Vor dem Krankenhaus befand sich ein Massengrab, erzählte mir Hamad. Ich fragte, wie viele Menschen dort begraben seien: „Wir wissen es nicht“, antwortete er.


Ezz' Haus war am zweiten Tag des Krieges zerstört worden. Er ließ sich als Freiwilliger im Al-Shifa-Krankenhaus nieder - der größten medizinischen Einrichtung in Gaza mit siebenhundert Betten und fünfundzwanzig Operationssälen. Dann sagte die israelische Armee, dass Geheimdienstinformationen darauf hindeuteten, dass sich in den Tunneln unter der Einrichtung eine Kommandozentrale der Hamas befand. Im November 2023 begann die israelische Armee eine Belagerung, die in einer Invadierung gipfelte; das Krankenhaus wurde lahmgelegt. Später veröffentlichte die israelische Armee Fotos von Tunneln und Waffen, die dort gefunden worden sein sollen.


Ezz erzählte mir, dass die Ärzte während der Belagerung ohne Schmerz- und Beruhigungsmittel Thorakostomien durchführen mussten, bei denen der Brustkorb aufgeschnitten wird, um den Druck von inneren Verletzungen zu nehmen. „Die Schreie der PatientInnen waren sehr laut“, sagte er. Es gab weder einen CT-Scanner noch einen Neurochirurgen; PatientInnen mit schweren Kopfverletzungen hörten schließlich auf zu atmen und starben. Selbst nach diesen Erfahrungen schien Ezz entschlossen, im Gazastreifen als Arzt zu praktizieren, vielleicht nach einem Auslandsaufenthalt. „Das ist mein Ziel“, erklärte er.

Motaz Harara, der Leiter der Notaufnahme von Al-Shifa, traf sich mit uns in einer ehemaligen Ambulanz in der Nähe des Hauptkrankenhauses, die er mit achtundzwanzig Betten ausgestattet und in eine kleine Notaufnahme umgewandelt hatte. Nach den Luftangriffen, so Harara, wurden in dem provisorischen Raum manchmal drei- bis vierhundert PatientInnen aufgenommen. Der Rest von Al-Shifa wurde jedoch aufgegeben. Das ehemals großzügige Atrium des Krankenhauses war nun ein Gewirr aus Betonstahl und pulverisiertem Beton. Auf einer Seite des Raumes waren ein Aufzugsschacht und ein Teil der Treppe in den Keller gestürzt. Der Rest der Treppe baumelte von der Decke. Wir bahnten uns vorsichtig einen Weg vorbei an verbrannten Tragen und Gerätewagen in die hintere Hälfte des Erdgeschosses, wo sich früher die Notaufnahme befunden hatte.


Die Notaufnahme war groß, weitgehend leer und schwarz vor Ruß. Von der Rückwand waren nur noch einige Säulen übrig. Durch die Lücken zwischen ihnen konnte ich einen großen Friedhof hinter dem Krankenhaus sehen, auf dem Trümmer als Grabsteine umfunktioniert worden waren. Als ich Harara fragte, ob ein Teil des Krankenhauses repariert werden könne, schüttelte er den Kopf. Ein Mitarbeiter von Medical Aid for Palestinians, einer britischen Wohltätigkeitsorganisation, sagte, dass der Wiederaufbau mehr als zwanzig Jahre dauern könnte.


Seit 1950 ist Israel Unterzeichner der Genfer Konventionen, die besagen, dass zivile Krankenhäuser „unter keinen Umständen angegriffen werden dürfen, sondern jederzeit geachtet und geschützt werden müssen“. Eine Ergänzung von 1977 verbietet jeden Angriff, „bei dem zu erwarten ist, dass er Verluste von Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, Verletzungen von ZivilistInnen, Schäden an zivilen Objekten oder eine Kombination davon verursacht, die im Verhältnis zu dem erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil übermäßig wären“. Seit dem 7. Oktober hat sich Israel öffentlich verpflichtet, nichtmilitärische Infrastruktur und Personal zu verschonen. „Wir werden unser Bestes tun, um keine Unschuldigen zu verletzen“, so Israels Botschafter bei der Europäischen Union im November 2023. „Wir sind an das Völkerrecht gebunden.“ Ein Krankenhaus behält seinen Sonderstatus auch dann, wenn es verwundete Kämpfer behandelt, aber wenn es für eine „feindschädigende Handlung“ benutzt wird, z. B. um Soldaten zu verstecken oder Waffen zu lagern – ein Verstoß gegen das Völkerrecht –, verliert es den humanitären Schutz. (Doch selbst dann sind das zivile medizinische Personal und die PatientInnen rechtlich geschützt.)


Im vergangenen Herbst veröffentlichte ein Team von Harvard-ForscherInnen eine Analyse der Entfernung zwischen den Krankenhäusern im Gazastreifen und den Kratern von Zweitausendpfund-M-84-Bomben. Eine M-84-Bombe kann mehr als fünf Tonnen Erde aufwirbeln und Schockwellen erzeugen, die stark genug sind, um Lungen und Nebenhöhlen platzen zu lassen. „Sie reißt ganze Gebäude in Stücke“, so ein ehemaliger Pentagon-Beamter. Die Forschung stellte fest, dass in den ersten sechs Wochen des Konflikts 84 % der Krankenhäuser im Gazastreifen in der Reichweite mindestens eines solchen Kraters lagen, ein Viertel sogar in der tödlichen Reichweite. „Ich sehe keine Beweise dafür, dass versucht wurde, ZivilistInnen oder zivile Infrastrukturen zu schützen“, sagte mir einer der Autoren, ein Raumepidemiologe und Notfallmediziner namens P. Gregg Greenough. „Wie kann man diese Art von Waffen in einem solchen Umfeld einsetzen und trotzdem behaupten, dass man sich an das humanitäre Völkerrecht hält?“ Die israelische Armee erklärte gegenüber The New Yorker, dass es „nicht absichtlich auf unbeteiligte ZivilistInnen zielt“. Die israelische Armee „erkennt den besonderen Schutz an, der medizinischen Teams nach dem humanitären Völkerrecht gewährt wird, und verpflichtet sich, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um den Schaden für sie zu mindern und die Unterbrechung der medizinischen Versorgung zu minimieren.“


Als wir durch das Tor des Al-Ahli Arab Hospital – das [zum Zeitpunkt der Erstellung des Artikels, mittlerweile jedoch ebenfalls zerstört, Anm.] einem funktionierenden Krankenhaus im Norden am nächsten kommt – gingen, sahen wir zwei hellbraune Gebäude und einen modern aussehenden Turm, der mit Sonnenkollektoren ausgestattet war. Die meisten Fenster waren von Glassplittern zerklüftet. Al-Ahli wurde 1882 von anglikanischen Missionaren gegründet. Eine Gedenktafel erinnerte an die von US-AID gesponserte Renovierung im Jahr 2011. Ständig fuhren Maultierwagen mit neuen PatientInnen vor, denen viele Fixierungsnadeln aus ihren Armen oder Beinen ragten. Eine Kapelle, die von Granatsplittern durchlöchert war, wurde in eine Krankenstation umgewandelt. Ezz führte uns in eine kleine Notaufnahme, die trotz des Waffenstillstands voll belegt war. Es gab keine Beatmungsgeräte, Defibrillatoren oder Infusionspumpen. Ich zählte zwei Herzmonitore und achtzehn Feldbetten. „Zwei Monitore für eine halbe Million Menschen“, sagte Ezz. „Unglaublich.“


Ezz stellte mich Fadil Naim vor, der die Einrichtung leitet. Das Krankenhaus hatte eigentlich Platz für etwa fünfzig stationäre PatientInnen, versorgte aber routinemäßig Hunderte, so dass einige PatientInnen draußen schliefen. Naim war der einzige leitende Orthopäde im Krankenhaus, aber er hatte sich Hilfe geholt, indem er jeden ausbildete, den er konnte. „Ich habe einen Medizinstudenten im dritten Jahr, der jetzt orthopädische Operationen durchführen kann“, berichtete er.


Zu Beginn des Krieges rief Naim Ezz mit einer schrecklichen Nachricht an. Ezz' Mutter war in der Notaufnahme von Al-Ahli angekommen. Das Haus seiner Großeltern war bombardiert worden. Als die Rettungskräfte eintrafen, explodierte in der Nähe eine zweite Bombe, so Ezz. Seine Mutter überlebte, aber zwanzig seiner Familienmitglieder, darunter sein Vater, sein Bruder, seine Großmutter, seine Nichte und seine Schwägerin, wurden getötet. „Einige von ihnen sind immer noch unter den Trümmern begraben“, sagte mir Ezz.


Viele der Häuser in Beit Lahia, im nördlichsten Teil des Gazastreifens, wurden nicht nur beschädigt, sondern dem Erdboden gleichgemacht. Das indonesische Krankenhaus, ein stattliches vierstöckiges Gebäude, war eines der wenigen Gebäude in der Nähe, das noch stand, obwohl es Berichten zufolge ebenfalls beschossen worden war. Spatzen hüpften von einem Trümmerhaufen zum anderen; in der Ferne hörte ich die Detonation einer vermutlich nicht explodierten Bombe. Marwan Sultan, ein Kardiologe und Leiter des Krankenhauses, führte uns durch dunkle Gänge, sein weißer Kittel wehte hinter ihm her.


Nur die Notaufnahme war noch in Betrieb. Die Ärzte hätten in einem Zahnarztstuhl neurochirurgische Eingriffe und Amputationen am Boden vorgenommen, sagte Sultan. Draußen zeigte er mir die Trümmer von mehreren Generatoren und einer Sauerstoffstation. Die israelischen Streitkräfte hatten „die Lunge des Krankenhauses zerstört“, sagte er. Ich sah ein Loch in der Seite des Gebäudes, wo ein Panzer die Wand durchschlagen hatte. Im Innenhof des Krankenhauses befanden sich Grabsteine, die aus Deckenplatten gefertigt waren. Ein Sprecher der israelischen Armee behauptete, dass in der Einrichtung Waffen und Tunnel gefunden worden waren.


Sultan führte mich nach oben, in die Intensivstation, wo der Wind durch die zerbrochenen Fenster wehte. Er wollte mir etwas zeigen, das er entdeckt hatte, nachdem die israelischen Streitkräfte das Krankenhaus verlassen hatten. Er zeigte auf einen Herzmonitor in der Nähe einer Wand. Er hatte ein Einschussloch in seinem Bildschirm. Daneben stand ein EKG-Gerät, dessen Bildschirm zertrümmert worden war.


Wir betraten einen großen Lagerraum in der Ecke der Intensivstation, der mit medizinischen Geräten vollgestopft war: Ultraschallgeräte, Infusionspumpen, Dialysegeräte,

Blutdruckmessgeräte. Jedes einzelne Gerät war offensichtlich durch eine Kugel zerstört worden - nicht in einem Muster, das man bei einem zufälligen Schuss erwarten würde, sondern eher methodisch. Ich war fassungslos. Ich konnte mir keine mögliche militärische Rechtfertigung für die Zerstörung lebensrettender Geräte vorstellen. Als ich die israelische Armee um einen Kommentar bat, sagte der Sprecher: „Behauptungen, dass die israelische Armee absichtlich auf medizinische Geräte zielt, sind eindeutig falsch.“


Der Waffenstillstand im Gazastreifen dauerte letztlich nur zwei Monate. Im Februar flog ich zurück in die USA. Am 2. März sperrte Israel den Gazastreifen für jegliche humanitäre Hilfe, einschließlich medizinischer Hilfsgüter, um Druck auf die Hamas auszuüben, damit sie die geänderten Waffenstillstandsbedingungen akzeptiert. In der Nacht zum 18. März setzte Israel seine Bombenangriffe fort. Bis zum Morgen waren nach Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza mehr als vierhundert Menschen getötet worden. Die Krankenhäuser im Norden hatten bald zu viele PatientInnen und zu wenig Mittel, um sie zu behandeln, so Ezz in einer SMS. „Jeden Tag stehen wir vor unmöglichen Entscheidungen“, schrieb er. In der vergangenen Woche warnte die israelische Armee das medizinische Personal von Al-Ahli, die PatientInnen zu evakuieren; zwanzig Minuten später legten Raketen die Notaufnahme lahm und zerstörten das Labor. Das israelische Armee behauptete, dass die Hamas dort operiere, was die Hamas jedoch bestritt.

Als die Bomben in Khan Younis fielen, war Feroze Sidhwa, ein amerikanischer Unfallchirurg, der schon einmal im Gazastreifen gewesen war, im Nasser-Krankenhaus und schlief in demselben Zimmer, in dem auch ich übernachtet hatte. Ich kannte ihn aus einem Gruppenchat von MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens, die wie ich an medizinischen Missionen teilgenommen hatten. Sidhwa, ein stoischer Mann mit kurzen Haaren, wachte auf, als die Druckwelle einer Explosion die Tür aufsprengte. Er eilte in die Notaufnahme.


In den folgenden Stunden wurden zweihunderteinundzwanzig Menschen in das Krankenhaus gebracht. Zweiundneunzig wurden bald für tot erklärt. Sidhwa suchte nach PatientInnen, die notoperiert werden mussten. „Es war ein Chaos“, berichtete er. „Die Zimmer waren voll mit Kindern, die auf dem Boden lagen, bluteten, schrien und weinten.“ Einige PatientInnen waren am Leben, aber mit den begrenzten Mitteln des Krankenhauses nicht mehr zu retten. Sidhwa sah mehrere Kinder mit schweren Hirnverletzungen. Da das Krankenhaus keinen Neurochirurgen hatte, konnte man nur wenig für sie tun. Nachdem er ein junges Mädchen untersucht hatte, verwies er ihren Verwandten in einen bestimmten Bereich der Notaufnahme, in den sterbende PatientInnen gebracht wurden. „Heben Sie sie auf und bringen Sie sie dorthin, und bleiben Sie einfach bei ihr“, sagte er.


Die nächste Patientin, die er untersuchte, war ein fünfjähriges Mädchen mit Schrapnellwunden in der Brust, im Bauch und am Kopf. Die Notaufnahme, die bei meinem Besuch im Januar noch leer war, war so überfüllt mit PatientInnen, dass er ihre Trage nicht zum CT-Scanner schieben konnte. Stattdessen hob er sie auf und trug sie. Ihre Scans deuteten darauf hin, dass ihre Hirnverletzungen überlebensfähig waren, also trug er sie in den Operationssaal und versorgte ihre inneren Verletzungen im Bauchraum. (Fünf Tage später konnte sie wieder sprechen.)

Er behandelte ein tennisballgroßes Loch im Rücken einer Frau, die gerissene Aorta eines anderen Patienten und einen fünfjährigen Jungen, dessen ganzer Körper mit Granatsplittern übersäht war, was einen Herzstillstand verursachte. Einer von Sidhwas Kollegen öffnete den Brustkorb des Jungen wie eine Muschel und nähte die Löcher in den Herzkammern zu. Der Kollege brachte das Herz des Jungen wieder in Gang, indem er ihm Adrenalin injizierte, und gemeinsam reparierten sie die Schäden an Leber, Zwerchfell, Dickdarm, Magen und Niere des Jungen. Trotz ihrer Bemühungen starb der Junge.


Sidhwa berichtete, dass einer seiner letzten Patienten in dieser Nacht ein sechzehnjähriger Junge namens Ibrahim war, der durch Granatsplitter Verletzungen im Darm erlitten hatte. Sidhwa nähte das Rektum des Jungen zu und schuf ein Stoma – ein Loch, das aus dem Bauchraum austritt –, damit sein Verdauungstrakt heilen konnte. Ibrahim hatte schwarze Haare und sah aufgrund von Unterernährung sehr dünn aus. Es wurde erwartet, dass er sich vollständig erholen würde. Der Vater des Jungen schien nur zwei englische Worte zu kennen: „Thank you“ - und wiederholte sie ständig. „Das war rührend“, erzählte mir Sidhwa.


Fünf Tage später war Ibrahim fast so weit, nach Hause entlassen zu werden. An diesem Nachmittag war Sidhwa auf dem Weg, um nach ihm zu sehen, als ihn ein Kollege aufhielt. Als sie gerade über einen Patienten sprachen, erschütterte eine Explosion das Krankenhaus. Sidhwas palästinensische Kollegen zogen ihn von den Fenstern weg; das Gebäude war getroffen worden. Die israelische Armee erklärte später, der Angriff habe einem hochrangigen politischen Führer der Hamas namens Ismail Barhoum gegolten. Ein Sprecher behauptete, Barhoum sei „im Krankenhaus, um Terroranschläge zu begehen“. Sidhwa nannte diese Behauptung „unfassbar lächerlich“. Barhoum sei mit Ibrahim verwandt, so Sidhwa, und sie seien im selben Zimmer medizinisch behandelt worden. „Er wurde verwundet und war als Patient hier“, sagte er. „Ich sage Ihnen das als Augenzeuge.“


Nach dem Angriff eilte Sidhwa erneut in die Notaufnahme. „Wir wussten nicht, ob die Israelis das Krankenhaus stürmen oder es erneut bombardieren würden“, sagte er mir. Schließlich stürmten mehrere Männer herein, sie trugen einen Teenager in einem Bettlaken. Sie brachten ihn in die Traumaabteilung und legten ihn auf eine Trage. Als Sidhwa das Laken zurückzog, war er geschockt. Der Unterleib des Patienten war zerfetzt und seine Eingeweide quollen hervor. Es war Ibrahim, und er war tot.

 

Clayton Dalton ist Notarzt. Er lebt und arbeitet in New Mexico.



Comments


bottom of page