Verschwundene Menschen, verschwundene Moral – wie zwei Jahre Gaza und Israel verändert haben
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- vor 4 Tagen
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Es kann keine Heilung geben, solange die Welt nicht den durch diesen Krieg entstandenen Abgrund erkennt und sich ihm stellt.
Von Orly Noy, The Guardian, 7. Oktober 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Etwa zwei Wochen nach dem 7. Oktober 2023 erhielt ich eine WhatsApp-Nachricht von einem Bekannten aus Gaza. Er bat mich, nach seiner Mutter zu sehen, die zu diesem Zeitpunkt in Ostjerusalem im Krankenhaus lag. Er hatte seit mehreren Tagen keinen Kontakt zu ihr. Als ich ihn nach weiteren Details fragte, antwortete er nicht mehr.
Vor einem Monat erhielt ich plötzlich eine Nachricht von ihm: „Hallo Orly“ auf Arabisch. Aufgeregt fragte ich ihn, wie es ihm gehe, wo er sei und wie es seiner Familie gehe. Die Antwort lautete: „Mahmoud wurde zu Beginn des Krieges getötet, hier spricht seine Schwester.“ Ich schrieb ihr Beileidsworte und fragte nach ihrem Befinden. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört.
Es ist extrem schwer, die beispiellose Hölle der letzten zwei Jahre in Worte zu fassen, aber vielleicht lässt sich ihr unbeschreibliches Wesen am besten mit einem einzigen Wort beschreiben: Verschwinden.
Es fühlt sich an, als wäre alles verschwunden. Nicht nur die Zehntausenden Palästinenser*innen in Gaza, die ohne Gräber, ohne Aufzeichnungen ausgelöscht wurden, als hätten sie nie existiert – auch so viele andere Dinge sind ausgehöhlt worden: grundlegende Vorstellungen von Moral, Anstand, Mitgefühl, Menschlichkeit, Hoffnung, Zukunft.
Die organisierende Logik des Alltags ist verschwunden. Nichts macht mehr Sinn, und es fühlt sich an, als würde hier niemand mehr Sinn erwarten. Ein Krieg, dessen erklärte Ziele die Rückkehr von Geiseln und die Zerschlagung der Hamas waren, hat sich unter dem Deckmantel eines vagen Versprechens des „vollständigen Sieges” zu einem umfassenden Völkermord entwickelt. Die israelische Gesellschaft hat ihn begrüßt – erschrocken und fasziniert zugleich von einem Tabu, das endlich gebrochen werden durfte, und von der Möglichkeit, offen vom vollständigen Verschwinden der Palästinenser*innen zu träumen.
Vor zwei Jahren, wenige Tage nach dem Massaker vom 7. Oktober, warnte ich vor Racheakten, die nichts als noch mehr Gewalt und Leid bringen würden. Ich befürchtete die ungezügelte Reaktion Israels, von der ich wusste, dass sie folgen würde, aber selbst in meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir nicht vorstellen können, dass sie zu einer derart systematischen, kalkulierten Vernichtung führen würde.
Ich hätte nicht geglaubt, dass Israel so weit gehen würde, Menschen zu Tode zu hungern.
Ich hätte nicht geglaubt, dass es zwei ganze Jahre lang jeden Tag im Durchschnitt eine ganze Schulklasse von Kindern auslöschen würde.
Ich hätte auch nicht geglaubt, dass die Welt Israel all dies durchgehen lassen würde – ein perverser, umgekehrter Antisemitismus, der im Grunde sagt: Die Regeln der Menschlichkeit gelten nicht für diese jüdische Gemeinschaft.
In diesen zwei Jahren wurden hier sehr abnormale Dinge normalisiert. Es kam zu Debatten darüber, ob die Kinder aus Gaza mit ihren aufgeblähten Bäuchen wirklich an Hunger gestorben waren oder ob sie bereits Vorerkrankungen hatten und Israel daher keinen Anteil an ihrem Tod hatte; die Umwandlung eines Aussichtspunkts auf einem Hügel in der israelischen Grenzstadt Sderot in einen beliebten Touristenort für Israelis, die kamen, um mit grimmiger Freude die pilzförmigen Rauchwolken über Gaza zu beobachten.
Eine schwindelerregende kognitive Dissonanz erfasste die israelische Gesellschaft: Selbst nachdem zweifelsfrei feststand, dass die Zerstörung Gazas und seiner Bevölkerung die Geiseln nicht zurückbringen würde und sie sogar gefährdete – wie alle freigelassenen Geiseln bezeugten – und selbst nachdem bewiesen war, dass der einzige Weg, sie lebend zurückzuholen, über Vereinbarungen und einen Waffenstillstand führte, dauerte es sehr lange, bis Demonstrationen für die Geiseln auch Forderungen nach einem Ende des Krieges beinhalteten. Und selbst dann wagte fast niemand, von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sprechen, die die israelische Armee beging, und es gab keine Massenbewegung von Kriegsdienstverweigerern unter Soldaten, die sich weigerten, an diesen Verbrechen teilzunehmen.
Seit dem 7. Oktober sind auch die Medien verschwunden, zumindest in dem Sinne, wie Medien sein sollten. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen an den Rändern hat die israelische Presse die Schrecken in Gaza bewusst verschwiegen, sodass während des gesamten Krieges ein zufälliger Bürger fast überall sonst auf der Welt mehr über die Ereignisse im Gazastreifen wusste als der durchschnittliche Israeli. Und selbst als Bilder in den sozialen Medien kursierten, fehlten den Menschen die grundlegendsten Mittel, um zu verstehen, was sie da sahen. Während also die Welt vor Israels Aushungerung Gazas und der wahllosen Ermordung von Zivilist*innen zurückschreckte, wurde der Staat in Israel für seine Großzügigkeit gelobt, weil er während des Krieges Hilfslieferungen für den „Feind“ zuließ.
Auch die jüdische Opposition verschwand. Politiker, die ihre gesamte Karriere darauf aufgebaut hatten, Benjamin Netanjahu zu bekämpfen, schlossen sich hinter ihm zusammen, als es um die Auslöschung der Palästinenser*innen in Gaza und um jeden gefährlichen und sinnlosen israelischen Angriff auf eine Reihe von Staaten im Nahen Osten ging. Dieser Wahnsinn erreichte seinen Höhepunkt in der begeisterten Unterstützung der Opposition für die Bombardierung einer Hamas-Delegation in Doha – einer Delegation, die über das Schicksal der israelischen Geiseln in Gaza verhandeln sollte –, obwohl jeder dieser Politiker zwei lange Jahre lang eine Anstecknadel am Revers trug, die seine Solidarität mit den Geiseln bekundete. Jeder echte Widerstand gegen den Krieg wurde vom ersten Tag an von der Polizei unter dem Kommando von Itamar Ben-Gvir brutal unterdrückt. Palästinensische Führungskräfte wurden allein wegen ihrer Absicht, Kundgebungen gegen den Krieg abzuhalten, verhaftet. Hunderte arabischer Bürger*innen wurden inhaftiert oder aus ihren Jobs entlassen, weil sie sich mit den Bewohner*innen Gazas solidarisierten.
Juden und Jüdinnen, die sich gegen den Krieg aussprachen, wurden als Verräter*innen und „selbsthassende Juden und Jüdinnen“ diffamiert, auch von ehemaligen Partner*innen aus dem Friedenslager. Mit gebrochenem Herzen sah ich zu, wie diese ehemaligen Genoss*innen nach dem 7. Oktober „zur Vernunft kamen“ und gewalttätige, hasserfüllte Diskurse gegen Palästinenser*innen in Gaza, Palästinenser*innen insgesamt und den Islam schürten. Hier ist noch etwas, das in diesen zwei Jahren verschwunden ist: so viele persönliche Bindungen, darunter auch zu engen Freund*innen und unmittelbaren Familienmitgliedern.
Bei einem Besuch im Friedensmuseum von Hiroshima vor einigen Wochen fiel mir auf, wie vertraut mir die Fotos vorkamen, obwohl Gaza in Bezug auf die Zerstörung weitaus schlimmer aussieht als Hiroshima nach dem Atombombenabwurf – der nicht kilometerweit stehende Gebäude pulverisiert hat. In Hiroshima forderte die Bombe zwischen 90 000 und 140 000 Menschenleben. In Gaza liegen einige Schätzungen bereits bei über 100 000, und die endgültige Zahl wird erst bekannt sein, wenn sich der Staub gelegt hat.
Ein Foto im Museum fiel mir besonders ins Auge: „Human Shadow Etched in Stone“ (Menschlicher Schatten in Stein gemeißelt), der Schatten einer Person, die offenbar am Eingang einer Bank saß, als die Bombe fiel, und von der nur noch der Abdruck ihres Schattens auf den Stufen übrig geblieben ist. Vielleicht ist es immer das, was aus großen Schrecken wird: die Leere, die sie hinterlassen. So in Gaza, und auf ganz andere Weise auch in Israel.
Ich weiß nicht, ob und was aus der Leere entstehen wird, die durch zwei Jahre der Zerstörung und des Todes entstanden ist, die noch nicht vorbei sind. Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Eines lässt sich jedoch sagen: Kein Wachstum ist möglich, solange wir nicht in diese Leere, diese Abwesenheit, diesen Abgrund blicken, ihre Dimensionen verinnerlichen und diesem Wahnsinn ein Ende setzen.
Orly Noy ist Journalistin und Redakteurin beim hebräischsprachigen Nachrichtenmagazin Local Call.

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