"Was uns die Wunden erzählen" - Internationale Ärztinnen und Ärzte berichten von Gaza
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Ärzt*innen in Gaza beobachteten ein beunruhigendes Muster: Kinder mit einer einzigen Schusswunde am Kopf oder in der Brust, ein Zeichen dafür, dass sie gezielt angegriffen worden waren. Dies geht aus Recherchen der Zeitung de Volkskrant hervor, die mit den Ärzt*innen sprach, die zu den letzten internationalen Augenzeug*innen zählen.
Von Maud Effting und Willem Feenstra, de Volkskrant, 13. September 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache und (Achtung, Triggerwarnung!) dazugehörendem Bildmaterial der Ärzt*innen)
Es ist drückend heiß, als der amerikanische Arzt Feroze Sidhwa die Intensivstation des Europäischen Krankenhauses in Gaza betritt. Auf dem Krankenhausgelände riecht die Luft nach Abwasser und verbrauchten Sprengstoffen. Im Inneren riecht es nach Verwesung. Und nach Leichen.
Sidhwa ist ein 43-jähriger Unfallchirurg und Intensivmediziner aus Kalifornien, der normalerweise in einem Krankenhaus in Stockton tätig ist. Unter seinen Kolleg*innen genießt er hohes Ansehen - nicht nur wegen seiner klinischen Fachkompetenz, sondern auch wegen seiner internationalen Arbeit. Er nimmt sich nie mehr als eine Woche frei, es sei denn, es handelt sich um einen humanitären Einsatz. Er hat in Krisengebieten wie Simbabwe und Haiti gearbeitet und Chirurg*innen in der Ukraine und Burkina Faso ausgebildet. Er möchte dorthin gehen, wo er am dringendsten gebraucht wird.
Es ist März 2024, und dies ist sein erster Tag in Gaza. Eine palästinensische Krankenschwester führt ihn durch das Krankenhaus. Plötzlich fällt sein Blick auf zwei kleine Jungen, die regungslos in ihren Betten liegen. Er schätzt, dass sie nicht älter als acht oder zehn Jahre alt sind. Ihre Köpfe sind mit Bandagen umwickelt. Sie werden beatmet. Der Rest ihrer Körper ist unverletzt.
„Was ist passiert?“, fragt er.
Die Krankenschwester spricht kaum Englisch. Aber sie zeigt auf ihre Köpfe. „Schuss, Schuss“, sagt sie.
Zuerst nimmt Sidhwa an, dass sie sich irrt. Schießen sie auf Kinder? Minuten später sieht er sich die Scans an und stellt fest, dass sie Recht hatte.
Als sie einen zweiten Raum betreten, finden sie zwei weitere Buben vor, die sich in demselben Zustand befinden.
„Ich dachte: Was zum Teufel?“, sagt er mit fester Stimme am Telefon zu de Volkskrant. „Wie ist es möglich, dass in diesem kleinen Krankenhaus vier Kinder mit Schusswunden am Kopf liegen – alle innerhalb der letzten 48 Stunden eingeliefert?“
Die vier Buben sterben langsam. An diesem Abend macht Sidhwa eine Notiz in seinem Tagebuch auf seinem Handy. Aber es bleibt keine Zeit zum Nachdenken. Noch nicht.
In den folgenden dreizehn Tagen sieht er neun weitere Kinder mit einzelnen Schusswunden am Kopf oder in der Brust - Kinder, die offensichtlich absichtlich erschossen wurden. „Ich begann mich zu fragen, ob mein Krankenhaus in der Nähe eines verrückten Scharfschützen lag“, so Sidhwa. „Oder eines Drohnenteams, das Kinder nur zum Spaß tötet.“
Zu Hause trifft Sidhwa auf einer medizinischen Konferenz einen amerikanischen Kollegen, der kurz vor ihm in einem anderen Krankenhaus in Gaza gearbeitet hatte. Als Sidhwa das Thema Kinder anspricht, nickt der Mann. „Zu meiner Überraschung sagte er: ‚Ja, das habe ich auch gesehen – fast jeden Tag.‘“
Der betreffende Arzt, Dr. Thaer Ahmad, bestätigte diese Aussage gegenüber der Zeitung „De Volkskrant“.
„Das war der Moment“, sagt Sidhwa, „in dem ich beschloss: Ich muss herausfinden, was hier wirklich vor sich geht.“
Die letzten Zeug*innen
Feroze Sidhwa ist nicht der einzige Arzt, der sich nach seiner Rückkehr aus Gaza dazu veranlasst sieht, seine Stimme zu erheben.
Seit fast zwei Jahren sind Ärzt*innen wie er in ihren Operationssälen Zeug*innen der Brutalität des israelischen Angriffs auf Gaza. Sie haben gelernt, sterbende Kleinkinder zu halten, während diese an ihrem eigenen Blut ersticken - weil es keine Beatmungsgeräte gibt. Sie haben die Kraft gefunden, einem Teenager ohne Betäubung ein Skalpell in die Brust zu stechen - weil keine Zeit bleibt und schon der nächste Patient wartet. Sie haben sich daran gewöhnt, weiterzuarbeiten, während sich der Boden unter ihnen mit den Leichen von Kindern füllt.
Manche Ärzt*innen sind von den Erfahrungen wie gelähmt. Andere hingegen haben sich entschlossen, ihre Stimme zu erheben.
Diese Ärzt*innen gehören zu den letzten internationalen Augenzeugen, da Israel ausländischen Journalist*innen den Zugang zum Gazastreifen verwehrt. Sie können aus erster Hand über die Folgen der genozidalen Gewalt berichten, die mit der Zerstörung von Gaza-Stadt in eine neue, finstere Phase eingetreten ist.
Diese Rolle bringt ein schweres Dilemma mit sich. Fast alle von ihnen möchten nach Gaza zurückkehren. Aber wenn sie öffentlich über das berichten, was sie gesehen haben, steigt das Risiko, dass Israel ihnen die Wiedereinreise verweigert. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden seit März 2025 mehr als hundert ausländische medizinische Mitarbeiter*innen abgewiesen – oft ohne offizielle Begründung.
Viele Ärzte haben diese Drohung mittlerweile akzeptiert - Schweigen ist für sie keine Option.
In den letzten Monaten sprach de Volkskrant mit siebzehn Ärzt*innen und einem Krankenpfleger aus den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich, Australien, Kanada und den Niederlanden. Seit Oktober 2023 haben sie in sechs Krankenhäusern und vier Kliniken in Gaza gearbeitet und sind oft ein- oder sogar zweimal zurückgekehrt. Die meisten von ihnen verfügen über umfangreiche Erfahrung in Krisengebieten wie dem Sudan, Afghanistan, Syrien, Bosnien und Herzegowina, Ruanda und der Ukraine.
Auf Anfrage der Zeitung übergaben sie Hunderte von Fotos und Videos von Patient*innen, Röntgenbildern, medizinischen Notizen und Tagebucheinträgen. Sie sprachen stundenlang. Sie legten offen, was sie in ihren Operationssälen gesehen hatten. Und sie alle standen vor derselben Frage: Was sagen uns die Wunden über diesen Krieg?
Die absolute Hölle
Der britische Transplantationschirurg und Professor Nizam Mamode, 63, war bereits in Teilzeitpension, als er im Sommer 2024 einen Anruf von der Hilfsorganisation Medical Aid for Palestinians erhielt. Sie fragten ihn, ob er im August nach Gaza kommen könne. „Ich hatte Zeit und wusste, dass ich die erforderlichen Fähigkeiten hatte“, erzählt Mamode. „Ich hatte bereits in Ruanda, im Sudan und im Libanon gearbeitet - also sagte ich zu. Manche meinen, das sei eine mutige Entscheidung gewesen, aber das war es nicht. Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, worauf ich mich einließ.“
Erst als er mit mehr als dreißig anderen Mitgliedern des UN-Konvois in gepanzerten Fahrzeugen durch Gaza fuhr, wurde ihm die vorherrschende Realität bewusst. „Die Türen waren verschlossen“, sagt er. „Wir erhielten die Anweisung: Wenn ihr losfahrt, öffnet sie niemals - wenn die israelische Armee auf euch schießt und euch auffordert auszusteigen, steigt nicht aus dem Fahrzeug aus.“
„Versucht, nicht getötet zu werden“, sagte ihnen der Konvoileiter.
„Zwei Wochen später wurden dieselben Fahrzeuge von Israel beschossen“, sagt Mamode.
Kurz davor wurde ihr Gepäck an einem Kontrollpunkt von Männern in schwarzen Uniformen durchsucht. In Gaza herrscht Mangel an fast allen medizinischen Hilfsgütern. Deshalb bringen die Ärzt*innen grundlegende Dinge mit. Aber oft wird ihnen alles weggenommen - sogar Babynahrung. Das sei bei mehreren Einsätzen passiert, berichteten die Ärzt*innen der Zeitung „De Volkskrant“.
Der britische plastische Chirurg Sarmad Tamimi, der am 24. Juni dieses Jahres nach Gaza einreiste, war bereits von Kolleg*innen vor Beschlagnahmungen gewarnt worden. Aber er wusste auch um die Hungersnot in Gaza und die verheerenden Folgen für Babys. „Ich habe die Babynahrungsergänzungsmittel aus ihren Verpackungen genommen und nur die Folie in mein Gepäck gepackt“, sagt er. „Den Soldaten habe ich gesagt, dass ich sie für mich selbst mitnehme.“
Die amerikanische Notärztin Mimi Syed schaffte es, zwei Laryngoskope unter ihrer Kleidung zu schmuggeln – unverzichtbare Instrumente für die Intubation von Patienten. „Ich hatte Angst“, gibt sie zu. „Aber als Ärztin brauche ich sie, um Leben zu retten. Normalerweise wirft man ein Laryngoskop nach einmaligem Gebrauch weg. In Gaza habe ich es bei mindestens fünfzig Patient*innen verwendet. Ich musste es abwischen und bei verschiedenen Patient*innen wiederverwenden.“
„Ich verstehe nicht, warum von Ärzt*innen, die die Grenze überqueren, Babynahrung beschlagnahmt wird“, sagt die britische plastische Chirurgin Victoria Rose. „Ich verstehe nicht, warum Ärzt*innen ihre Medikamente weggenommen werden. Ich verstehe nicht, warum der Hälfte der Ärzt*innen die Einreise verweigert wird. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht verstehe.“
In einer Stellungnahme erklärte die israelische Armee, die Behauptungen über die Beschlagnahmung von Babynahrung seien „völlig falsch“. Das Militär erklärte, es arbeite tatsächlich daran, die Einfuhr humanitärer Hilfe zu erleichtern. Nach Angaben der Armee wurden seit dem 19. Mai 2025 „allein etwa 5 000 Tonnen Säuglingsnahrung in den Gazastreifen gebracht, zusätzlich zu umfangreichen Mengen anderer humanitärer Hilfe“.
Die von de Volkskrant befragten Ärzt*innen arbeiteten während des gesamten Krieges in verschiedenen Krankenhäusern und Feldkliniken, darunter Nasser, Al-Aqsa, das Europäische Krankenhaus und Al-Shifa. Einige arbeiteten mit Médecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen) und mit Organisationen zusammen, die darum baten, nicht namentlich genannt zu werden, da sie befürchteten, dass eine Identifizierung sie daran hindern könnte, ihre Arbeit fortzusetzen. Unter ihnen sind Allgemeinchirurg*innen, Orthopäd*innen, Intensivmediziner*innen, plastische Chirurg*innen, Unfallchirurg*innen und Notärzt*innen. Einige von ihnen befanden sich zum Zeitpunkt der Interviews noch in Gaza. Die Zeitung sprach auch mit einem Unfallkrankenpfleger mit Kriegserfahrung.
Die Lage in den Krankenhäusern von Gaza, von denen viele weitgehend zerstört sind, ist weitaus schlimmer, als die Ärzt*innen erwartet hatten. „Ich musste einer Frau mit einer Schere das Bein amputieren“, berichtet die Notärztin Syed. „Ohne Schmerzmittel. Ich hatte keine andere Wahl.“
„Dieser Junge musste sich einer doppelten Amputation unterziehen. Seine Unterschenkel wurden in der Kiste neben seinem Bett aufbewahrt.“
Dr. Salih el Saddy
In den Krankenstationen hängt der Geruch verbrannter Gliedmaßen in der Luft. „Wir hörten ständig Menschen schreien“, erinnert sich der Rotterdamer Arzt Salih el Saddy. „In unserem Krankenhaus hatten wir Anästhetika, aber keine Schmerzmittel. Die Patient*innen wachten nach Amputationen mit extremen Schmerzen auf. Wir konnten nichts für sie tun.“
In den Operationssälen sind die Mitarbeiter*innen damit beschäftigt, Fliegen von den Patient*innen fernzuhalten, die operiert wurden. Nizam Mamode beobachtet, wie ein Kollege auf der Intensivstation ein Kind versorgt, dessen Beatmungsgerät nicht richtig funktioniert. Als er den Schlauch aus dem Hals des Kindes entfernt, sieht er, dass dieser verstopft ist. „Er war voller Maden“, berichtet Mamode, „die aus dem Hals des Kindes kamen.“
Die MRT- und Dialysegeräte sind laut Ärzten unbrauchbar - sie sind mit Einschusslöchern übersät. Einige Operationssäle wurden in Brand gesteckt. Die Kabel der Ultraschallgeräte wurden durchtrennt.
Es bleibt wenig Zeit zum Nachdenken. Doch manchmal schleicht sich ohne Vorwarnung ein Gefühl der Ungläubigkeit ein. Mamode erlebte dies, als er eine 8-jährige Patientin operierte. „Sie blutete stark, also bat ich um eine Bauchkompresse, um das überschüssige Blut aufzusaugen und die Wunde zu lokalisieren“, erinnert er sich.
Ihm wurde gesagt, dass es keine Gaze gab.
„Plötzlich dachte ich über die Ironie der Situation nach“, sagt er. „Das Wort ‚Gaze‘ kommt vermutlich aus Gaza, weil die Bewohner*innen Gazas für ihr feines Leinen bekannt waren. Da waren wir nun, in der Heimat der Gaze – und ich konnte keine bekommen. Ich musste das Blut mit meinen Händen aus ihrem Körper schöpfen.“
Der Notarzt Adil Husain nahm vor seiner Abreise eine Videobotschaft für seine kleine Tochter auf, für den Fall, dass sie ihn nie wieder sehen würden. Andere verfassten ihr Testament. Alle von de Volkskrant befragten Ärzt*innen verspürten einen starken inneren Drang, zu gehen.
„Ich bin Chirurg. Ich möchte dorthin gehen, wo der Bedarf am größten ist“, so ein Arzt, der bald nach Gaza zurückkehren wird und aus Angst vor Repressalien seitens Israels anonym bleiben möchte. „Meine Arbeit dort ist wichtig. Sie ist ein Signal an die Menschen in Gaza: Wir haben euch nicht vergessen.“
Internationale Ärzt*innen bleiben in der Regel zwei bis sechs Wochen in Gaza - dann werden sie abgelöst. Viele von ihnen schlafen im Krankenhaus und verlassen es wochenlang kaum. Im Nasser-Krankenhaus teilen sich etwa fünfzehn Chirurg*innen ein Zimmer im vierten Stock, in der Nähe der Operationssäle. Nachts kann die Temperatur auf bis zu 38 Grad steigen.
Der Chirurg Nizam Mamode suchte Zuflucht auf der Steintreppe neben der Station. „Ich habe jede Nacht auf dieser Treppe geschlafen, in der Hoffnung, dass sie vor den Drohnen sicher sein würde“, sagt er. Im vergangenen Monat wurde er Zeuge, wie der obere Teil derselben Treppe durch einen israelischen Angriff zerstört wurde - ein Angriff, der internationale Aufmerksamkeit erregte, weil es Videoaufnahmen gab, die den Moment festhielten, in dem Helfer und Journalist*innen getötet wurden.
Die überwiegende Mehrheit der Verletzungen wird durch Bomben- und Granatenexplosionen verursacht: Die Menschen werden von den Druckwellen, der Hitze, herumfliegenden Splittern und einstürzenden Gebäuden getroffen. Splitter durchschlagen Zelte. Und die Körper unzähliger Kinder - die mehr als vierzig Prozent der Bevölkerung Gazas ausmachen.
„Ich habe zahlreiche Kinder gesehen, denen Hirnmasse herausquoll“, sagt MSF-Krankenpfleger Jack Latour. „Es tut mir leid – ich weiß, dass niemand so etwas hören will. Aber genau das passiert hier.“
Als der Chirurg Goher Rahbour zum ersten Mal mit einem Massenanfall konfrontiert wurde, sah er ein fünfjähriges Mädchen ohne Fuß. „Es lag auf dem Boden. Das Mädchen neben ihr war ebenfalls noch ein Kind. Ihr Bein war ab dem Knie abgetrennt. Dann kam ein weiteres. Ich erstarrte. Ich dachte: Das ist die absolute Hölle.“
Nach Angaben der Gesundheitsbehörden in Gaza sind bisher mehr als 64 000 Menschen in Gaza getötet worden, darunter fast 20 000 Kinder. Israel stellt die Zuverlässigkeit dieser Zahlen in Frage und argumentiert, dass das Ministerium von der Hamas kontrolliert wird. Eine Gruppe internationaler Forscher kam in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet zu dem Schluss, dass die Zahlen dieses Ministeriums tatsächlich eine zu niedrige Schätzung darstellen.
Kinder mit Schusswunden
Von allen Patient*innen gibt es eine Gruppe, die die Ärzt*innen am meisten schockiert: Kinder mit Schussverletzungen am Kopf oder in der Brust – und ansonsten unverletzte Körper.
Eine einzige Kugel in diesen Bereichen ist ein starkes Indiz dafür, dass das Kind absichtlich ins Visier genommen wurde. Das stellt ein Kriegsverbrechen dar. In anderen Konfliktgebieten begegneten die Ärzt*innen selten solchen Fällen.
Am 14. August 2024 schreibt die Ärztin Mimi Syed in ihr Tagebuch. Die Sätze sind kurz. Stakkatoartig.
„Mädchen, 7 Jahre alt. Schusswunde in der Brust. Bei Ankunft bereits tot. Haben versucht, sie zu retten. Teil eines größeren Massenanfalls. Auf dem Boden, keine Liegen. Bin fast im Blut ausgerutscht. Kann seit zwei Tagen nichts essen. Kann nichts schlucken. Werde ich je wieder normal sein?“
Syed ist eine amerikanische Notärztin, die zwei vierwöchige Einsätze in Gaza absolvierte und im Nasser-Krankenhaus in Khan Younis und im Al-Aqsa-Krankenhaus in Deir al-Balah arbeitete. „Wie die meisten Menschen verfolgte ich den Krieg über Livestreams auf meinem Handy“, sagt sie. „Aber ich konnte das nicht mehr ertragen. Ich bin Mutter. Ich konnte nicht einfach zusehen und nichts tun.“
Sie beschreibt Mira, ein 4-jähriges Mädchen, das sie im Nasser-Krankenhaus gesehen hat. Ihre Eltern brachten sie dorthin. „Sie sagten, sie sei von einem Quadcopter [bewaffnete Drohne, Anm. d. Red.] erschossen worden, als sie in der von Israel erklärten humanitären Zone unterwegs war. Meine Kolleg*innen sagten mir, ich solle sie einfach sterben lassen. Die Einschätzung war leider, dass wir nicht viel tun konnten. Aber sie bewegte sich noch ein wenig. Sie war sehr jung. Ein kleines Mädchen. Ich konnte einfach nicht wegsehen. Etwas in ihrem Gesicht hat mich sehr bewegt. Also habe ich es versucht.“
Syed intubiert das Mädchen mit dem Laryngoskop, das sie selbst eingeschmuggelt hatte. Augenblicke später starrte sie ungläubig auf den Scan von Miras Kopf: Dort steckte eine Kugel.
Mit Hilfe ihrer Kolleg*innen gelingt es Syed, Mira am Leben zu erhalten. Später wacht das kleine Mädchen auf und beginnt wieder zu sprechen - ein kleines Wunder. Viel später entfernt ein anderer Arzt die Kugel aus ihrem Kopf.
Aber Mira ist nicht das einzige Kind mit einer Kugel im Kopf, das Syed begegnet. Sie beschließt, Fotos von ihnen zu machen. „Ich dachte: Ich muss das dokumentieren. Mir wurde klar – das sind Kriegsverbrechen.“ Unter extrem stressigen Bedingungen fotografiert sie achtzehn Kinder, die in den Kopf oder die Brust geschossen worden waren. Alle seien durch einen einzigen Schuss getötet worden, sagt sie.
De Volkskrant fragte Ärzt*innen, wie viele Kinder im Alter von 15 Jahren und jünger sie mit einer einzigen Schusswunde am Kopf und/oder an der Brust behandelt hätten. Die Frage wurde bewusst auf diese Altersgruppe beschränkt, da Kinder in diesem Alter in den meisten Fällen klar und eindeutig als Kinder zu erkennen sind.
Fünfzehn von siebzehn Ärzt*innen gaben an, dass sie Kinder im Alter von 15 Jahren oder jünger mit solchen Schussverletzungen behandelt hätten. Insgesamt meldeten sie 114 Kinder, von denen viele nicht überlebten.
Einige Ärzt*innen machten Fotos oder Notizen, andere verließen sich auf ihr Gedächtnis. Auf Anfrage der Zeitung gaben sie möglichst konservative Schätzungen ab: Fälle, bei denen sie sich nicht sicher waren, wurden ausgeschlossen. Kinder, die auch an anderen Körperstellen angeschossen worden waren, wurden ebenfalls nicht mitgezählt, da bei solchen Verletzungen weniger Gewissheit besteht, dass sie absichtlich verursacht wurden.
Die Ärzt*innen vermuten, dass die Gesamtzahl der Kinder, die in Kopf oder Brust geschossen wurden, um ein Vielfaches höher ist als die Zahl, die sie persönlich gesehen haben. Kinder, die sofort starben, kamen oft gar nicht erst in ihre Abteilungen. Außerdem arbeiteten die Ärzt*innen nicht in allen Krankenhäusern Gazas – und nur für einen begrenzten Zeitraum.
Auf Anfrage der Zeitung stellten die Ärzt*innen selbst aufgenommene Fotos und Videos als Beweismaterial zur Verfügung. Insgesamt sichtete De Volkskrant Bilder von Dutzenden Kindern mit Schussverletzungen an Kopf oder Brust. Die meisten dieser Bilder werden nicht veröffentlicht, da sie zu drastisch sind.
De Volkskrant legte zwei Gerichtsmedizinern Dutzende Bilder von Kindern mit Schussverletzungen und verschiedene Röntgenaufnahmen vor. Diese bestätigten, dass die Verletzungen durch Kugeln und nicht durch umherfliegende Splitter verursacht worden waren.
„Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich um Fernschüsse handelt, die mit militärischer Munition auf den Kopf und/oder Hals abgegeben wurden“, so der forensische Pathologe Wim Van de Voorde, emeritierter Professor an der Universität Leuven. Laut Van de Voorde sind die Fotos nicht von ausreichender Qualität, um rechtliche Schlussfolgerungen zu ziehen – „was angesichts der extrem schwierigen örtlichen Gegebenheiten verständlich ist“.
Der forensische Pathologe Frank van de Goot sagt: „Auf den Röntgenbildern sehe ich Kinderköpfe mit darin steckenden Kugeln. Die Kugeln müssen auf ihrem Weg viel Energie verloren haben, da Kinder dünnere Schädel als Erwachsene haben – sonst wären die Kugeln direkt durchgegangen. Diese Kinder wurden also aus beträchtlicher Entfernung erschossen.“
Diese Erkenntnis deckt sich mit Augenzeug*innenberichten, in denen Zivilist*innen Ärzt*innen erzählten, dass die Kugeln in der Regel von bewaffneten Drohnen oder Scharfschützen der israelischen Armee abgefeuert wurden. Scharfschützen sind in der Lage, bestimmte Personen aus großer Entfernung – manchmal aus über tausend Metern Entfernung – ins Visier zu nehmen. Die israelische Armee lehnte es ab, Fragen zu Scharfschützen, die auf Kinder schießen, zu beantworten.
Laut dem ehemaligen Kommandeur der niederländischen Armee, Mart de Kruif, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um zufällige Treffer handelt, praktisch null, da die Ärzt*innen mehr als hundert solcher Fälle beschreiben. „Man muss sich nur vor Augen führen, wie klein der Kopf im Vergleich zum Rest des Körpers ist“, sagt er. „Wenn man eine hohe Anzahl von Schussverletzungen im Brustbereich und am Kopf sieht, handelt es sich nicht um Kollateralschäden, sondern um gezielte Angriffe.“
Der israelische Ministerpräsident Netanjahu und die Militärführung haben stets bestritten, dass Soldaten absichtlich auf palästinensische Zivilist*innen schießen. Anonyme Soldaten haben jedoch wiederholt in der israelischen Zeitung Haaretz zugegeben, dass dies tatsächlich geschieht. Breaking the Silence, eine israelische Organisation von Militärveteran*innen, hat ebenfalls auf der Grundlage von Hunderten von Interviews mit Soldaten aufgedeckt, dass ihnen befohlen wurde, jeden zu erschießen, der einen bestimmten Bereich betritt. „Erwachsener Mann – töten“, sagt ein Hauptmann in dem Untersuchungsbericht The Perimeter.
Der israelische Ministerpräsident Netanjahu und die Militärführung haben stets bestritten, dass Soldaten absichtlich palästinensische Zivilist*innen ins Visier nehmen. Anonyme Soldaten haben jedoch in der israelischen Zeitung Haaretz wiederholt das Gegenteil zugegeben.
Im August veröffentlichte die BBC die Ergebnisse einer Untersuchung zu mehr als 160 Kindern, die in Gaza erschossen wurden. In 95 dieser Fälle traf die Kugel den Kopf oder die Brust. Die BBC sprach in 59 Fällen mit Augenzeug*innen. In 57 Fällen wurde der Schuss eindeutig dem israelischen Militär zugeschrieben. Nur in zwei Fällen soll die Kugel aus palästinensischem Feuer gekommen sein.
Die meisten der von de Volkskrant befragten Ärzt*innen sagten, sie hätten sich im Nachhinein gewünscht, mehr Beweise gesammelt zu haben, aber in dem Chaos in Gaza war dies einfach nicht möglich. Oder sie trauten sich nicht, es zu versuchen. Der amerikanische Orthopäde Mark Perlmutter (69), der vierzig humanitäre Einsätze durchgeführt hat, sagt: „Ich wünschte, ich hätte die Geistesgegenwart gehabt, mehr zu dokumentieren.“
„Das ist mein größtes Bedauern“, fügt die amerikanische Anästhesistin und Intensivmedizinerin Ahlia Kattan hinzu. „Aber ich habe Patient*innen behandelt. In diesem Moment war das einfach nicht meine oberste Priorität. Ich wünschte, jemand hätte mir vorher gesagt, dass ich nicht nur als Ärztin, sondern auch als Journalistin handeln sollte.“
„Vorher sagten uns die NGOs: Dokumentiert nichts, macht keine Notizen, macht keine Fotos“, sagt Feroze Sidhwa. „Sie haben Angst, dass Israel ihnen dann die Einreise nach Gaza verbietet.“
Aber ihre Erinnerungen an die Kinder sind oft bemerkenswert detailliert.
„Während eines Unglücks mit vielen Opfern ging ich durch die Notaufnahme“, erinnert sich Perlmutter. „Überall lagen Kinder. Ich drehte sie um, um zu sehen, wem ich noch helfen konnte. Und dann sah ich diese beiden kleinen Jungen. Sie waren tot. Beide waren erschossen worden - durch die Brust und den Kopf. Sechs oder sieben Jahre alt. Ich untersuchte sie. Ich bat den medizinischen Assistenten, Fotos zu machen.“ Die Fotos befinden sich im Besitz dieser Zeitung.
Perlmutter erinnert sich, wie der Mann, der einen der Jungen gebracht hatte, schrie. „Er konnte nicht verstehen, warum der Schütze das Kind getroffen hatte – und nicht ihn, den Erwachsenen.“ Augenblicke später sieht er den Mann, wahrscheinlich den Vater des Kindes, schluchzen. Der Mann sitzt unter Schock auf dem Boden, während das Kind in die Leichenhalle gebracht wird. Perlmutter holt sein iPhone heraus und macht ein Foto.
Die Anästhesistin und Intensivmedizinerin Ahlia Kattan erzählt die Geschichte eines kleinen Mädchens, das von seiner Mutter gebracht wurde:
„Sie war noch nicht einmal zwei Jahre alt“, sagt sie. „Sie war sehr blass und sah vollkommen gesund aus, daher nahm ich an, dass sie innere Blutungen hatte. Sie war tot. Aber ihre Mutter schrie – es waren herzzerreißende Schreie. Sie hatte jahrelang versucht, ein Kind zu bekommen. Also begannen wir mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung, und ich intubierte sie. Ich wollte der Mutter zeigen, dass ich alles getan hatte, was ich konnte. Das machen wir oft bei sehr kleinen Kindern. Während ich mich um sie kümmerte, reichte mir jemand den Scan. Und dann sah ich es: eine Kugel in ihrem Kopf. Ich sah das Blut. Es war ein perfekter Schuss in die Schläfe.“
„Ich habe ein Foto vom Fußende des Bettes aus gemacht“, sagt Kattan. „Es ist eines der wenigen Fotos, die ich in Gaza gemacht habe. Aber ich war so überrascht. Ich dachte: Sonst wird mir das niemand glauben.“
Je länger die Ärzte in Gaza bleiben, desto mehr wird ihnen klar: Dies sind keine Einzelfälle – dies ist systemisch. Diese Kugeln wurden absichtlich abgefeuert.
Untersuchung der New York Times
Feroze Sidhwa kam im Herbst 2024 zum gleichen Schluss. Nachdem er an einer Konferenz in den USA teilgenommen hatte, bei der er erfuhr, dass ein anderer Arzt die gleichen Beobachtungen gemacht hatte wie er, begann er in Zusammenarbeit mit der New York Times eine Untersuchung. Sie baten 64 amerikanische Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens, die in Gaza gearbeitet hatten, einen Fragebogen auszufüllen.
Die am 9. Oktober 2024 veröffentlichten Ergebnisse sind zutiefst beunruhigend. In dem Artikel mit dem Titel „65 Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen und Rettungssanitäter*innen: Was wir in Gaza gesehen haben” gaben 44 Befragte an, mehrere Kinder im Alter von 12 Jahren oder jünger gesehen zu haben, die Schussverletzungen am Kopf oder an der Brust hatten. 25 sagten, sie hätten gesunde Neugeborene gesehen, die ins Krankenhaus zurückgebracht wurden – nur um dort an Dehydrierung, Hunger oder Infektionen zu sterben. 52 berichteten, dass sie kleine Kinder gesehen hätten, die selbstmordgefährdet waren oder sagten, sie wünschten sich, sie wären tot.
Zu diesem Zeitpunkt war Joe Biden noch Präsident der Vereinigten Staaten. Ärzt*innen hatten ihm bereits in einem offenen Brief ihre Besorgnis über die hohe Zahl sterbender Kleinkinder mitgeteilt. Aber Biden – gefangen zwischen gegensätzlichen Ansichten innerhalb seiner eigenen Demokratischen Partei – reagierte nicht darauf.
Sidhwa erwartete, dass der Artikel in der New York Times dies ändern würde. „Es ist äußerst selten, dass sich 65 amerikanische Mediziner*innen so öffentlich äußern“, sagt er. „Ihre Aufgabe ist es ja eigentlich, sich auf die Rettung von Menschenleben zu konzentrieren. Der Artikel wurde millionenfach gelesen.“
Aber die Veröffentlichung löste nicht die von Sidhwa erwartete Welle der Empörung aus. Auch führte sie nicht zu einer Änderung der politischen Ausrichtung. „Sie wurde von der Biden-Regierung einfach ignoriert.“
Gamifizierung der Kriegsführung
Für einen kurzen Moment keimt in Gaza Hoffnung auf, als Anfang 2025 ein zweimonatiger Waffenstillstand in Kraft tritt. Doch in den frühen Morgenstunden des 18. März, gegen 2:30 Uhr, wird diese Hoffnung zunichte gemacht. Mit groß angelegten Luftangriffen leitet Israel eine intensivierte Phase seiner Zerstörungskampagne ein - eine Phase, die bis heute andauert und vor allem durch den groß angelegten Angriff auf Gaza-Stadt gekennzeichnet ist.
Ärzt*innen beobachten, wie sich die Lage in den Krankenhäusern von Tag zu Tag verschlechtert. Massenanfälle werden immer häufiger - manchmal mehrere an einem einzigen Tag. Viele der Patient*innen, die eingeliefert werden, tragen bereits Narben von früheren Bombardierungen. Hunger schwächt sowohl die Patient*innen als auch das medizinische Personal erheblich.
Verwundete Kinder, die keinen einzigen überlebenden Familienangehörigen mehr haben, werden zu einer offiziellen medizinischen Klassifizierung: WCNSF – Wounded Child, No Surviving Family (verwundetes Kind, keine überlebenden Familienangehörigen).
Feroze Sidhwa, mitten in seiner zweiten Mission, wacht in dieser Nacht auf, als die Tür zum Schlafsaal aufgesprengt wird. Israel hat den Waffenstillstand mit einer Welle groß angelegter Luftangriffe gebrochen. In der Dunkelheit sitzen die Ärzt*innen benommen und schweigend da und starren fast eine Minute lang ins Leere. Sie lauschen den fallenden Bomben.
„Wir müssen nach unten gehen“, sagt einer von ihnen.
Innerhalb weniger Stunden treffen Hunderte von Patient*innen ein. Sidhwa beginnt seine Schicht in dieser Nacht in der Notaufnahme.
„In den ersten zehn Minuten haben wir nur kleine Kinder für tot erklärt“, sagt er.
„Und das Schlimmste daran ist: Das waren sie gar nicht. Die meisten von ihnen waren noch nicht tot. Ihre Herzen schlugen noch. Aber wir hoben sie hoch und übergaben sie einem Familienmitglied. Ich spreche kein Arabisch, aber ein Wort habe ich gelernt: khalas – es bedeutet „Schluss“. Wir mussten Entscheidungen treffen, damit wir andere behandeln konnten. Das bedeutete, dass sie in einen anderen Teil des Krankenhauses gebracht werden mussten – um dort zu sterben.“
Mark Perlmutter ist in derselben Nacht im Al-Aqsa-Krankenhaus und sieht einen kleinen Jungen, der auf dem Boden liegt. Er ist von Kopf bis Fuß mit grauem Staub bedeckt.
„Er lag in einer Blutlache. Er hatte kein Bein mehr. Ich versuchte, an ihm vorbeizugehen. Plötzlich streckte er die Hand aus und packte meine Hose. Er konnte nicht sprechen, aber er sah mich direkt an. Ich sah, wie die Blutlache um ihn herum immer größer wurde. Ich musste mein Bein von ihm wegziehen – damit ich einem anderen Kind helfen konnte.“
Am Telefon beginnt er zu weinen. „Ich musste über ihn hinwegsteigen“, sagt er. Er kann den Jungen nicht aus seinem Kopf bekommen.
Bei Massenanfällen sind Ärzt*innen mit schwerverletzten Patient*innen überfordert, sodass es schwierig ist, den Überblick zu behalten. Doch inmitten des Chaos fallen den Ärzt*innen zwei Muster auf, die möglicherweise auf Kriegsverbrechen Israels hindeuten. Sie finden Hinweise auf den Einsatz hoch umstrittener Waffen und Anzeichen für die Gamifizierung der Kriegsführung.
Unter den vielen Menschen mit Verstümmelungen und Verbrennungen bemerken Ärzt*innen Patient*innen, die mit kleinen Wunden eintreffen, sich jedoch in einem sehr schlechten Zustand befinden.
Es stellt sich heraus, dass sie von winzigen Metallfragmenten getroffen wurden, die wie Würfel oder Zylinder geformt sind. Diese Teile sind so klein – nur wenige Millimeter groß –, dass Ärzt*innen manchmal nicht einmal eine Eintritts- oder Austrittswunde finden können. Aber im Körper verursachen sie, was Ärzte als „schreckliche Schäden” bezeichnen: Organe werden durchbohrt, Nerven und Blutgefäße getroffen. Die Folge: Patient*innen erleiden tödliche innere Blutungen oder müssen sich schweren Amputationen unterziehen.
Laut Thaer Ahmad, einem Notarzt aus Chicago, sind die Eintrittswunden so unauffällig, dass einige Patient*innen zunächst nach Hause geschickt wurden. „Einige kamen mit blutgefüllten Bäuchen zurück. Einer von ihnen starb, während er auf die Operation wartete.“
Neun Ärzt*innen berichteten der Zeitung de Volkskrant, dass sie bei Patient*innen auf diese würfel- oder zylinderförmigen Fragmente gestoßen seien. Einige teilten der Zeitung Fotos und Videos dieser von Fragmenten getroffenen Patient*innen mit.
Zuvor hatten Waffenexperten in der britischen Zeitung „The Guardian“ erklärt, dass die Verletzungen mit israelischen Splitterwaffen übereinstimmen – Sprengstoffen, die mit großen Mengen kleiner, würfelförmiger Metallpartikel gefüllt sind.
Mark Perlmutter, Vizepräsident des International College of Surgeons, sagt, er habe diese Fragmente regelmäßig gefunden. „Ich habe mindestens zehn Menschen operiert, die sie hatten.“ Er gibt an, zwei Metallfragmente in seinem Gepäck aus Gaza geschmuggelt zu haben. „Ich habe sie dem Internationalen Strafgerichtshof übergeben.“
Laut Perlmutter bestehen die Fragmente aus Wolfram.
Wolfram ist ein extrem hartes Metall, das fast doppelt so schwer ist wie Stahl. Aus diesem Grund kann es nach einer Explosion erhebliche Schäden verursachen, wenn es verstreut wird. Sein Einsatz in dicht besiedelten Gebieten wie Gaza ist höchst umstritten, da es darauf ausgelegt ist, möglichst viele Opfer zu fordern, und nicht zwischen Zivilist*innenen und Kombattanten unterscheidet. Amnesty International wirft Israel seit langem vor, solche Waffen in Gaza einzusetzen.
„Dieses Mädchen wurde von Metallfragmenten getroffen, die wahrscheinlich von Splitterwaffen stammten. Das Metall drang unter ihrer Nase ein und durchschlug ihren Kopf. Sie überlebte nicht.“
Mark Perlmutter
Laut israelischer Armee ist die Behauptung, Israel setze Waffen ein, die Splitterverletzungen verursachen, „eine offensichtliche Lüge“. „Die israelische Armee besitzt oder setzt keine solchen Waffen ein. Diese Behauptung entbehrt jeder Grundlage und stellt eine vorsätzliche Verzerrung der Realität dar.“
Seit Anfang März hat Israel die Hilfslieferungen nach Gaza vollständig blockiert. Zwei Monate später sind fast alle Vorräte in der Region aufgebraucht, und immer mehr Menschen sterben an systematischer Hungersnot. Die internationale Kritik an Israel nimmt zu.
Als Reaktion darauf eröffnete Israel Ende Mai vier umstrittene Lebensmittelverteilungsstellen in Gaza, zu denen die Palästinenser*innen reisen müssen, um Hilfe zu erhalten. Von Anfang an erwiesen sich diese Orte als tödlich. Zivilist*innen, die in der Schlange standen, wurden wahllos erschossen.
Soldaten gaben dies sogar in der israelischen Zeitung Haaretz zu: Auf Befehl ihrer Kommandeure schossen sie auf Gruppen von Zivilist*innen, die keine Bedrohung darstellten. „Es ist ein killing field“, sagte ein Soldat. „Unsere Form der Kommunikation ist Schusswaffenfeuer.“ Ihm zufolge „wissen“ die Zivilist*innen, dass sie sich der Lebensmittelverteilungsstelle nähern können, sobald die Schüsse aufhören. Ein anderer Soldat sagte, dass sie dies untereinander als ein bekanntes Kinderspiel namens „Salted Fish“ [Rot, grün, Anm. d. Red.] bezeichnen, bei dem Kinder versuchen, sich dem „Fänger“ zu nähern, ohne dabei erwischt zu werden.
Jedes Mal, wenn eine Lebensmittelausgabestelle öffnet, sehen Ärzt*innen in den Krankenhäusern Dutzende Zivilist*innen mit Schussverletzungen eintreffen. Die meisten sind Jungen - Teenager und junge Erwachsene. Sie werden in großen Gruppen auf Eselskarren hergebracht. Einige tragen noch leere Lebensmittelsäcke bei sich.
Mehrere Ärzt*innen bemerken ein Muster bei den Verletzungen. Die betroffenen Körperteile unterscheiden sich von Tag zu Tag, als ob es sich um koordinierte Aktionen handele.
Der britische Chirurg Goher Rahbour berichtet, dass er an einem Tag fünf oder sechs Patienten behandelt habe, die Schussverletzungen an beiden Armen und Beinen hatten, die laut Augenzeugenberichten von der israelischen Armee verursacht worden waren. „War das zum Spaß?“, fragt sich Rahbour. „Spielen die Soldaten ein Spiel?“
Der renommierte britische Speiseröhren- und Magenchirurg Nick Maynard von der Universität Oxford machte ebenfalls diese Erfahrung, als er kurz hintereinander vier Menschen operieren musste, die Schussverletzungen im Bauchbereich erlitten hatten.
Maynard begann, andere Ärzt*innen zu fragen, ob sie dasselbe beobachtet hätten. „Jeder Arzt und jede Ärztin, mit denen ich im Nasser-Krankenhaus darüber sprach, bestätigte dies“, sagt er. „An einem Tag sahen sie hauptsächlich Schusswunden an Kopf und Hals. Am nächsten Tag waren es die Brust, dann die Gliedmaßen, dann der Bauch oder sogar die Hoden. Ein Assistenzarzt der Urologie erzählte mir, dass er an einem einzigen Tag vier Jungen hatte, die in die Leistengegend geschossen worden waren.“ Aufgrund der chaotischen Zustände in Gaza war es laut Maynard unmöglich, täglich zu dokumentieren, welche Körperteile getroffen wurden – und wie oft.
In der Vergangenheit gab es Hinweise darauf, dass israelische Scharfschützen beim Schießen auf bestimmte Körperteile spielähnliche Elemente erlebten. Im Jahr 2020 erzählten israelische Scharfschützen der Zeitung Haaretz anonym, wie sie versuchten, „Rekorde“ zu brechen, indem sie an einem einzigen Tag so viele Knie wie möglich trafen. Einer von ihnen erzielte 42 Treffer.
Die israelische Armee geht nicht konkret auf Fragen zu den von Ärzt*innen beobachteten Mustern ein. Nach Angaben des Militärs ist es die Hamas, die „gefährliche Bedingungen für Zivilist*innen schafft“.
Dennoch melden sich immer wieder Ärzt*innen mit unterschiedlichen Berichten zu Wort.
Anfang August kehrt der amerikanische Notarzt Adil Husain gerade aus dem Nasser-Krankenhaus zurück, als er vor einer Menschenmenge in Texas spricht. Er weist auf die Abwesenheit ausländischer Journalist*innen in Gaza hin. „Es liegt also an uns, den Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens, die dort waren“, sagt er, „Zeugnis abzulegen.“ Er sagt, er empfinde es als „unsere Pflicht, für die Menschen in Gaza zu sprechen“. In zwei Wochen, so sagt er, habe er in seiner Notaufnahme Hunderte von Todesfällen miterlebt.
Er erzählt von Ahmed, einem 10-jährigen Jungen, der mit leeren Taschen von einer Lebensmittelausgabe zurückkam. „Er wurde mit Schusswunden am Kopf, am Hals und am Bauch in meine Notaufnahme gebracht“, sagt Husain. Er erzählt der Zeitung de Volkskrant, dass er dem Jungen in seinen letzten Augenblicken Ketamin verabreicht habe, um ihm das Sterben zu erleichtern. „Ich hielt ihn fest im Arm. Und ich flüsterte ihm ins Ohr: Es tut mir leid.“
Ärzte, die die Region verlassen, sind fast ausnahmslos von Schuldgefühlen geplagt – weil sie gehen können, während alle anderen zurückbleiben.
„Nach meinem ersten Einsatz blieb ich mit meinen Kolleg*innen aus Gaza in Kontakt und fragte sie, wie es ihnen geht“, sagt Sarmad Tamimi, der Ende Juli von seinem zweiten Einsatz zurückgekehrt ist. „Aber das schaffe ich nicht mehr. Weil ich Angst davor habe, was sie sagen werden.“
Ihre moralische Pflicht
Es ist der 28. Mai 2025, und im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York spricht Dr. Sidhwa vor dem Sicherheitsrat. Die Einladung kam in letzter Minute, sodass er alle seine Patient*innen im Krankenhaus in Stockton absagen musste.
„Ich bin nicht als Politiker oder Entscheidungsträger hier“, sagt Feroze Sidhwa und fährt mit dem Zeigefinger über den Text auf dem Blatt Papier vor ihm. „Ich bin Arzt und Zeuge der vorsätzlichen Zerstörung eines Gesundheitssystems, der gezielten Verfolgung meiner eigenen Kolleg*innen und der Auslöschung eines Volkes.“
Eineinhalb Monate zuvor war Sidhwa von seiner zweiten Mission in Gaza zurückgekehrt. Jetzt sitzt er hier, gekleidet in einen grauen Anzug mit grüner Krawatte, und spricht über Dinge, die sich jeder Beschreibung entziehen. Er wirkt ruhig und konzentriert.
„Meine Patient*innen waren 6-Jährige - mit Granatsplittern im Herzen und Kugeln im Gehirn. Und schwangere Frauen, deren Becken zerstört und deren Föten noch im Mutterleib in zwei Teile geteilt worden waren.“
Tatsächlich, so erzählte er später der Zeitung de Volkskrant, sei seine ursprüngliche Rede „viel härter“ gewesen. Auf Anraten eines vertrauten Freundes hatte er seine Worte jedoch abgeschwächt, um nicht zu sehr von den diplomatischen Konventionen abzuweichen.
Fast alle Ärzt*innen, die mit der Zeitung de Volkskrant sprachen, beschrieben, dass sie dasselbe Gefühl wie Sidhwa hatten. Sie gehen nach Gaza, um zu helfen - um Verwundete zu behandeln, Leben zu retten. Aber wenn sie mit eigenen Augen das Ausmaß der Zerstörung, die Zahl der getöteten unschuldigen Zivilist*innen und wie wenige Leben sie tatsächlich retten können, wird ihnen klar, dass ihre Aufgabe nicht endet, wenn sie nach Hause zurückkehren.
Von neutralen Helfer*innen sind sie – manchmal zögerlich – zu öffentlichen Zeug*innen geworden. So können sie möglichst vielen Menschen erzählen, was sie mit eigenen Augen gesehen haben.
Das ist auch der Fall bei Nizam Mamode, als er im Herbst 2024 vor einem britischen Parlamentsausschuss aussagt. Während der Sitzung, die live übertragen wird, bricht der 63-jährige Chirurg zusammen.
Während er erzählt, wie Kinder nach einem Bombenangriff auf dem Boden liegen blieben – nur um von bewaffneten Drohnen erschossen zu werden, „das passierte Tag für Tag“ –, verstummt Mamode. Er schließt seine Augen. Seine Lippen beginnen zu zittern.
Seine Stille wird behutsam von der Vorsitzenden des Ausschusses aufgefangen. „Ich fühle ...“, sagt sie, „denn man kann nicht vergessen, was man gesehen hat.“
Fast dreißig Jahre lang war Mamode Mitglied der Labour-Partei. Bei den letzten Wahlen hat er sogar Wahlkampf für sie gemacht. „Aber jetzt habe ich meine Mitgliedskarte zerschnitten und bin ausgetreten“, erzählt er der Zeitung de Volkskrant, „weil ich mich für unsere Labour-Regierung schäme. Ich finde, sie hat die moralische Verpflichtung zu handeln - und sie zeigt keine Anzeichen dafür. Ich glaube, dass sie eines Tages dafür sehr hart beurteilt werden wird.“
Es ist eine Last, die fast alle Ärzt*innen tragen: Sie kommen aus Ländern, die traditionelle Verbündete Israels sind. Länder, die – selbst nachdem sie ihre Augenzeugenberichte gehört haben – nicht entschlossen genug gehandelt haben, um Israel zum Einhalten zu bewegen. Und im Falle der Vereinigten Staaten liefern sie weiterhin genau die Waffen, die das Blutvergießen erst möglich machen.
In den Krankenhäusern von Gaza versuchen die Ärzt*innen, nicht darüber nachzudenken. Aber manchmal können sie es einfach nicht vermeiden.
Als Israel am 18. März mit einer Welle von Bombenangriffen den Waffenstillstand brach, füllten sich die Flure des Nasser-Krankenhauses schnell mit Leichen und Verwundeten. „Ich erinnere mich an ein fünfjähriges Mädchen“, sagt Feroze Sidhwa. „Sie hieß Sham. Sie war das erste Kind, das ich an diesem Tag tatsächlich retten konnte. Ich saß neben ihr auf dem Boden und versuchte, ihr beim Atmen zu helfen. Ein Granatsplitter hatte ihr Gehirn durchschlagen, und ich sah nur dieses kleine Rinnsal Blut, das daraus floss.“
Inmitten des Chaos, umgeben von den Schreien der Kinder, konnte Sidhwa nur an eines denken: „Habe ich für diesen Granatsplitter bezahlt? War es mein Nachbar? Oder sein Nachbar? Welchem Amerikaner kann ich eine E-Mail schicken, um ihm mitzuteilen, dass seine Granate gefunden wurde?“

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