Wie deutsche Medien dazu beitrugen, den Weg für die Ermordung von Journalist*innen durch Israel in Gaza zu ebnen
- office16022
- 18. Aug.
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Im Vorfeld der tödlichen Anschläge dieser Woche verbreiteten sich Geschichten, die palästinensische Reporter mit der Hamas in Verbindung brachten. Was dann folgte, war unausweichlich.
Von Hanno Hauenstein, The Guardian, 13. August 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Welche Rolle spielt der Journalismus, wenn palästinensische Reporter*innen wie Kriminelle behandelt und dem Tod überlassen werden? Im vergangenen Oktober sprach ich mit dem Journalisten Hossam Shabat. Er beschrieb, wie Familien im Norden Gazas ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpackten, als Israel begann, seinen „Plan der Generäle“ umzusetzen.
Sechs Monate später war Shabat tot - getötet von Israel, beschuldigt, ein Hamas-Aktivist zu sein.
Israel versucht nicht, diese Morde zu verheimlichen. Stattdessen diffamiert es seine Opfer oft im Voraus – indem es Journalist*innen als „Terroristen“ brandmarkt, Anschuldigungen, die selten begründet sind. Diese Etikettierungen dienen einem klaren Zweck: Sie sollen Reporter*innen ihren Zivilistenstatus nehmen und ihre Tötung moralisch akzeptabel erscheinen lassen. Journalist*innen sind keine legitimen Ziele. Sie zu töten ist ein Kriegsverbrechen.
Die jüngste Mordserie erschütterte die Welt: Fünf Al-Jazeera-Journalisten wurden in einem Pressezelt in Gaza-Stadt ermordet, darunter Anas al-Sharif, dessen Gesicht jedem bekannt war, der die Ereignisse in Gaza aus nächster Nähe verfolgte. Sowohl die UNO als auch das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) hatten gewarnt, dass al-Sharifs Leben in Gefahr sei. Wochen später war er tot.
Unterdessen wächst der Konsens, dass Gaza Schauplatz eines live übertragenen Völkermords ist. Dennoch haben in Deutschland – einem Land, das stolz darauf ist, aus seiner eigenen Geschichte des Völkermords gelernt zu haben – einige der mächtigsten Medienunternehmen dazu beigetragen, Israels Vorgehen zu ermöglichen. Einige deutsche Journalist*innen haben sogar die Tötung ihrer palästinensischen Kolleg*innen gerechtfertigt.
Das deutlichste Beispiel dafür ist Axel Springer, Europas größter Verlag und Eigentümer der Bild, Deutschlands größter Zeitung. Nur wenige Stunden, nachdem die Ermordung von al-Sharif bekannt wurde, veröffentlichte Bild sein Bild unter der Überschrift: „Als Journalist getarnter Terrorist in Gaza getötet“ (die später in „Getöteter Journalist war angeblich Terrorist“ geändert wurde).
Lassen Sie das auf sich wirken.
Etwa eine Woche zuvor hatte Bild einen weiteren Artikel veröffentlicht: „Dieser Fotograf aus Gaza inszeniert Hamas-Propaganda.“ Der Artikel richtete sich gegen den palästinensischen Fotografen Anas Zayed Fteiha und beschuldigte ihn, Bilder von hungernden Palästinenser*innen als Teil einer Hamas-Kampagne inszeniert zu haben, obwohl es Beweise dafür gab, dass die Personen auf den Fotos tatsächlich hungerten und auf Essen warteten. In dem Artikel wurde Fteihas Titel als Journalist in Anführungszeichen gesetzt, was implizierte, dass er kein echter Journalist sei und dass die Bilder von Hunger übertriebene Erfindungen seien.
Der Bild-Artikel – zusammen mit einem ähnlichen Beitrag in der liberalen Süddeutschen Zeitung (SZ) – wurde vom israelischen Außenministerium umgehend auf X verbreitet, das sie als Beweis dafür anführte, dass die Hamas die weltweite Meinung manipuliert. Fteiha wurde als „Israel- und Judenhasser“ gebrandmarkt, der im Dienste der Hamas steht. Die Gaza Humanitarian Foundation schloss sich schnell an, ebenso wie rechtsgerichtete Influencer.
In diesem Fall waren die deutschen Medien zu einem direkten Sprachrohr für israelische Argumente geworden, die schnell auf die internationale Bühne gebracht und als „Beweise“ neu verpackt wurden. Fteiha antwortete darauf: „Ich verursache kein Leid. Ich dokumentiere es.“ Seine Arbeit als „Hamas-Propaganda“ zu bezeichnen, sei „ein Verbrechen gegen die Presse selbst“.
Nur wenige Tage vor der Veröffentlichung der Artikel in Bild und SZ gab einer der größten Journalistenverbände Deutschlands, der Deutsche Journalisten-Verband (DJV), eine Erklärung heraus, in der er vor „Manipulationen“ in der Pressefotografie warnte. Er stellte insbesondere Bilder von abgemagerten Kindern in Gaza in Frage und behauptete, ihr Zustand sei „offenbar nicht auf die Hungersnot in Gaza zurückzuführen“. Der DJV lieferte keine Beweise für diese Behauptung - vor allem, weil es keine solchen Beweise gibt.
Angesichts der negativen Reaktionen im Internet verwies der Verband auf einen Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Juli, in dem der Autor spekulierte, ob die Bilder von abgemagerten Säuglingen wirklich das Ergebnis von Hunger seien – oder eher von bereits bestehenden Erkrankungen wie Mukoviszidose. Der Artikel deutete an, dass die Publikationen entweder fahrlässig oder manipulativ gehandelt hätten, indem sie diese Fotos ohne weitere Details veröffentlichten. Ausgelassen wurde die Tatsache, dass Hunger und bereits bestehende Erkrankungen nicht klar voneinander getrennt werden können und dass keine bereits bestehende Erkrankung allein zu einer derart extremen Auszehrung führen kann.
Voreingenommenheit ist in der deutschen Medienlandschaft nichts Neues. Bei Axel Springer steht die Unterstützung für die Existenz des Staates Israel an zweiter Stelle der Leitprinzipien des Unternehmens, den sogenannten Essentials. Im September letzten Jahres trug Bild dazu bei, die Waffenstillstandsverhandlungen zu torpedieren, indem es einen „Exklusivbericht” veröffentlichte – Auszüge aus einem Strategiepapier der Hamas, die Benjamin Netanjahus Berater an Bild weitergegeben hatten. Darin behauptete die Bild, die Hamas strebe „kein schnelles Ende des Krieges“ an, was Netanjahu geschickt von jeglicher Verantwortung für das Scheitern der damaligen Verhandlungen entlastete. (Auf Anfragen zu dem Artikel erklärte ein Sprecher der Bild gegenüber dem Magazin +972, dass die Zeitung keine Angaben zu ihren Quellen mache.)
Wie sich herausstellte, war das Hamas-Dokument von der Bild-Zeitung weitgehend falsch dargestellt worden. Der Zeitpunkt hätte für Netanjahu nicht besser sein können: Die Geschichte erschien gerade zu einem Zeitpunkt, als Massenproteste Druck auf seine Position ausübten. Kurz nach der Veröffentlichung des Bild-Artikels zitierte Netanjahu ihn in einer Kabinettssitzung, um die Demonstranten als Marionetten der Hamas darzustellen. Der Bild-Artikel ist nach wie vor online und wurde nie korrigiert.
Das Problem geht jedoch weit über Bild und Axel Springer hinaus. In den traditionellen deutschen Medien ist das Versäumnis, eine faktenbasierte, ausgewogene Berichterstattung über Israel und Palästina zu liefern, weitreichend - und wurde nach den Anschlägen vom 7. Oktober besonders deutlich. Erfundene Behauptungen, wie beispielsweise, dass die Hamas 40 Babys enthauptet habe, sowie verschiedene andere absichtliche Falschinformationen blieben – und bleiben weiterhin – unkorrigiert.
Medien aller politischen Lager in Deutschland lassen regelmäßig den historischen Kontext außer Acht, stellen palästinensische Todesfälle in einem passiven, entpolitisierten Licht dar und zeigen ein fast blindes Vertrauen in die „Überprüfung” durch das israelische Militär - während sie die gut dokumentierten Falschinformationen israelischer staatlicher Quellen ignorieren. Im Januar veröffentlichte die angeblich linke Tageszeitung einen Artikel mit der Überschrift: „Können Journalisten Terroristen sein?” Der Artikel zitierte viermal das israelische Militär – und keinen einzigen Journalisten in Gaza.
In der gesamten deutschen Medienlandschaft tragen solche Darstellungen dazu bei, palästinensischen Journalisten ihre Glaubwürdigkeit zu nehmen und – im schlimmsten Fall – Israel fertige Rechtfertigungen für Angriffe auf sie zu liefern.
Deutschlands Versprechen „Nie wieder“ sollte angesichts seiner tiefgreifenden Geschichte des Völkermords Gewicht haben. Doch es klingt hohl, wenn die dominierenden Medien des Landes Propaganda verbreiten oder legitimieren, um Massenmorde in Gaza zu rechtfertigen. Das ist kein Journalismus im Dienste der Wahrheit - es ist Journalismus im Dienste der Gewalt. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, müsste man sich ernsthaft mit den redaktionellen Kulturen und politischen Loyalitäten auseinandersetzen, die es ermöglicht haben, dass der deutsche Journalismus auf diese Weise instrumentalisiert werden konnte.
Die Tötung von Journalist*innen in Gaza macht eines schmerzlich deutlich: Israel will keine Spuren hinterlassen. Wenn die Geschichte dieses Völkermords geschrieben wird, wird es ein Kapitel über die Rolle der Medien geben. Der Abschnitt über Deutschland wird unangenehm groß sein. Niemand sollte behaupten, er habe es nicht kommen sehen.
Hanno Hauenstein ist Journalist und Autor und lebt in Berlin. Er arbeitete als leitender Redakteur in der Kulturredaktion der Berliner Zeitung und spezialisierte sich auf zeitgenössische Kunst und Politik.




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