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„Wir haben mit dem Tod gerechnet“: Befreite Häftlinge aus Gaza berichten von Folter durch Israel

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  • 27. Okt.
  • 9 Min. Lesezeit

Obwohl sie froh über ihre Freilassung im Rahmen des Waffenstillstands sind, müssen manche der Freigelassenen – die in israelischen Gefängnissen geblendet, geschlagen und ausgehungert worden waren – unvorstellbare Verluste verarbeiten.


Von Ibtisam Mahdi, +972Mag, 17. Oktober 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Am Montagnachmittag füllten Zehntausende Palästinenser*innen den Innenhof des Nasser-Krankenhauses in Khan Yunis im Süden des Gazastreifens. Sie waren gekommen, um die Busse zu empfangen, die palästinensische Häftlinge beförderten, die im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der Hamas freigelassen worden waren. Einige waren gekommen, um ihre Angehörigen zu begrüßen, andere einfach nur, um Zeuge dieses historischen Moments zu werden. Der Innenhof war voller Emotionen: Freude, Tränen, Trauer und Ungläubigkeit.

Von den fast 2000 palästinensischen Häftlingen, die im Rahmen der ersten Phase des Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der Hamas freigelassen wurden, stammen über 1700 aus dem Gazastreifen. Dennoch empfanden viele Palästinenser*innen das Ergebnis als hinter den Erwartungen zurückbleibend im Vergleich zu früheren Austauschaktionen, bei denen die Hamas die Freilassung einer weitaus größeren Zahl von Häftlingen für weitaus weniger israelische Gefangene erreicht hatte – insbesondere beim „Shalit-Deal“ von 2011, bei dem 1 027 Palästinenser im Austausch für einen einzigen israelischen Soldaten freigelassen wurden.

Nach der Untersuchung verließen die Häftlinge das Krankenhaus und gingen durch die zerstörten Straßen der Stadt, alle noch immer in ihren grauen Gefängnisuniformen, die ihre ausgemergelten Körper bedeckten. Ihre Köpfe waren rasiert, ihre Bärte verwildert, ihre Gesichter gezeichnet von Wochen, Monaten und manchmal Jahren des Leidens.

„Gott hat uns aus den Tiefen des Grabes zurückgebracht“, wiederholten viele von ihnen. Dieser Satz fasste sowohl die Qualen ihrer Gefangenschaft als auch die Euphorie ihrer Freilassung zusammen. Doch für viele war die Freiheit auch mit unvorstellbaren Verlusten verbunden.

Unter ihnen war der 43-jährige Haitham Moein Salem, ein Bewohner von Beit Lahiya im nördlichen Gazastreifen. Er war etwas mehr als ein Jahr zuvor während eines israelischen Einmarsches in Gaza-Stadt von der israelischen Armee festgenommen worden. Am 10. September, einen Monat vor seiner Freilassung, traf ein israelischer Luftangriff das Zelt seiner Familie in der vermeintlich „sicheren Zone“ von Al-Mawasi in der Nähe von Khan Younis und tötete seine Frau und alle drei seiner Kinder – Iman, Layan und Baraa. Er hatte geglaubt, dass sie bei seiner Rückkehr auf ihn warten würden.

„Niemand hat mir mitgeteilt, dass meine Familie angegriffen worden war”, sagte er nach seiner Freilassung gegenüber dem +972 Magazine. „Die israelische Armee war dafür bekannt, schlechte Nachrichten aus Gaza zu überbringen, insbesondere wenn unsere Familien angegriffen oder getötet wurden.”

Als er die Nachricht über seine Familie hörte, brach Salem zusammen und musste von Sanitätern im Rollstuhl transportiert werden. Über einen Monat lang hatte er ein kleines Geschenk für seine Tochter Layan vorbereitet, das er aus übrig gebliebenen Olivenkernen geschnitzt hatte, die er vom Boden aufgelesen hatte. Er hatte es die ganze Zeit in seiner Tasche aufbewahrt, um es für ihren 9. Geburtstag am 18. Oktober aufzubewahren.

„Ich begann, die Tage [im Gefängnis] zu zählen, in der Hoffnung, dass ich rechtzeitig herauskommen würde, um ihren Geburtstag zu feiern“, erinnert er sich. „Aber heute, nur fünf Tage davor, erfuhr ich, dass sie getötet worden war.“

Salems Tragödie war kein Einzelfall. Unter den neu freigelassenen Häftlingen befand sich auch der 28-jährige Mohammad Assaliya, der Ende Januar 2024 während einer israelischen Bodenoffensive in Jabalia festgenommen worden war. Fünf Monate später, am 31. Mai, wurde sein Elternhaus bei einem Luftangriff getroffen, bei dem sein Vater, seine Mutter und acht seiner Geschwister ums Leben kamen. Nur eine Schwester überlebte.

„Freiheit hat einen Geschmack, der sich nicht beschreiben lässt; unsere Freude war unbeschreiblich – aber sie zerbrach, als ich vom Tod meiner Familie erfuhr“, erzählt er +972. „Ein Gefängniswärter hatte mir bereits davon erzählt, aber ich klammerte mich an die Hoffnung, dass es nicht wahr sei, dass es nur psychologische Folter sei.“

Assaliya, der im Ketziot-Gefängnis in der Wüste Naqab (Negev) inhaftiert war, beschreibt die Formen der Misshandlung, denen er während seiner Haft ausgesetzt war, folgend: „Uns wurden Essen und Wasser vorenthalten, wir durften nicht schlafen und nur einmal am Tag auf die Toilette gehen. Wir wurden shabeh ausgesetzt [eine Form der Folter, bei der der Gefangene an beiden Handgelenken gefesselt und mit weit ausgestreckten Armen an eine Wand oder Tür gehängt wird, sodass seine Füße kaum den Boden berühren]. Wir aßen einfache Mahlzeiten, während wir gefesselt waren.“

Assaliya sagte, dass die Misshandlungen sogar in seinen letzten Tagen in Haft weitergingen. „Zwei Tage vor unserer Freilassung wurden wir in Busse gepfercht und dort festgehalten, bis wir freigelassen wurden. Wir wussten, dass es eine Vereinbarung gab, aber die Soldaten sagten uns, dass wir in ein anderes Gefängnis namens „Hölle“ gebracht würden. Während dieser Zeit durften wir weder essen noch trinken, und jeder, der mit einem anderen Häftling sprach, wurde geschlagen. Es war eine Zeit enormen psychischen Drucks.“

 

„Ich möchte nur ein Auge zurückhaben“

Der Zustand von Mahmoud Abu Foul, einem 28-Jährigen aus dem Norden Gazas, stach selbst unter den unzähligen ausgemergelten Menschen hervor, die am Montag aus den Bussen am Nasser-Krankenhaus strömten. Sein Gesicht und sein Körper zeugten von Erschöpfung, Krankheit und Misshandlung. Unmittelbar nach seiner Ankunft wurde er in die Notaufnahme eingeliefert, bevor er in das Al-Aqsa-Krankenhaus in Deir Al-Balah gebracht wurde. Einige Stunden später wurde er entlassen, jedoch ohne Sehvermögen und mit einer schweren Entzündung am Stumpf seines Beines, das 2015 aufgrund einer Verletzung durch einen israelischen Luftangriff amputiert worden war, während er in einer Schmiede arbeitete.

+972 sprach vier Tage später mit Abu Foul aus einem Zelt in Az-Zawayda im Zentrum von Gaza, wo er mit seiner Familie Zuflucht gesucht hatte. „Ich wurde am 27. Dezember 2024 von den Besatzungstruppen im Kamal-Adwan-Krankenhaus im Norden Gazas festgenommen“, berichtet er. „Ich wurde schrecklich gefoltert. Sie hielten ein Holzwerkzeug in der Hand und schlugen mich ständig von vorne und von hinten, manchmal gleichzeitig, wodurch ich mein Augenlicht verlor.“

Abu Foul glaubt, dass er vor etwa acht Monaten erblindet ist. „Seit dieser Zeit habe ich nichts mehr gesehen“, sagte er. „Obwohl ich mein Augenlicht verloren hatte, misshandelte mich der Verhörende weiterhin. Mein amputiertes Bein wurde wiederholt geschlagen, und ich wurde mehr als einmal daran aufgehängt. Während einem der Verhöre wurde ich aufgefordert, mich direkt auf mein amputiertes Bein zu setzen. Das war extrem schmerzhaft und führte zu Blutungen, die dann zu Entzündungen führten. Natürlich erhielt ich während meiner Haft keine Medikamente oder Behandlung, was meinen Zustand verschlimmerte. Ich konnte es nur mit Wasser waschen.“

Was Abu Foul am meisten schmerzt, ist, wie er zugibt, die Trauer, die seine Familie empfand, als sie ihn in diesem Zustand sah. „Es war schwer für meine Familie, den Schock zu verkraften, mich so zu sehen, blind. Sie weinten vor mir und dankten Gott, dass ich lebend herausgekommen war.“

Abu Foul hofft nun auf eine Behandlung im Ausland. Er wurde an einen Augenarzt überwiesen, der ihm Hoffnung gab. „Er sagte mir, dass ich mit einer bestimmten Behandlung möglicherweise mein Augenlicht zurückerlangen könnte, aber diese ist aufgrund des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems und der Krankenhäuser im Gazastreifen nicht verfügbar.

Die Wunde an meinem Fuß muss ebenfalls intensiv nachbehandelt werden, damit sie sich nicht entzündet und zu einer erneuten Amputation führt“, fügte er hinzu. „Ich möchte nur ein Auge zurückbekommen, damit ich meine Familie sehen kann.“

 

„Jenseits aller Vorstellungskraft“

Die Erfahrungen des 30-jährigen Journalisten Shadi Abu Sidwa zeigen das Ausmaß der psychischen Folter, der palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen ausgesetzt sind. Abu Sidwa, der in Gaza-Stadt lebt, wurde am 18. März 2024 festgenommen, als er auf der Flucht war und im Al-Amal-Krankenhaus in Khan Yunis Zuflucht suchte.

„Wir wurden sehr schlecht behandelt, wurden Shabeh ausgesetzt, geschlagen und verbal, körperlich und psychisch gedemütigt“, berichtet er +972. „Einer der Verhörenden sagte mir, dass Israel alle Journalist*innen im Gazastreifen getötet habe. Er sagte, Soldaten hätten bei meiner Festnahme das Objektiv meiner Kamera zerbrochen, damit ich nicht mehr dokumentieren könne, was geschah - und dann drohte er, auch mein echtes Auge zu zerstören. Er schlug mir drei Wochen lang immer wieder ins Auge, bis es blutete. Ich wurde nie medizinisch versorgt.“

Zwei Wochen nach seiner Verhaftung teilten die Gefängnisbehörden Abu Sidwa mit, dass seine Frau und seine drei Kinder von der israelischen Armee in Gaza getötet worden waren. Fast vollständig von der Außenwelt isoliert und in der Überzeugung, dass er nach seiner Entlassung keine Familie mehr hatte, zu der er zurückkehren konnte, träumte Abu Sidwa nur davon, nach seiner Entlassung wieder die Sonne zu sehen. „Ich verließ das Gefängnis mit schmerzendem Herzen und stellte mir vor, wie mein Leben ohne meine Familie aussehen würde – überzeugt davon, dass sie alle den gestorben waren“, erinnert er sich.

Als Abu Sidwa jedoch an diesem Montag endlich freigelassen wurde, war er fassungslos, als er von seinem Bruder erfuhr, dass seine gesamte Familie am Leben und in Sicherheit war.

Zunächst weigerte er sich, dies zu glauben, da er dachte, sein Bruder wolle ihn nur trösten. Als er jedoch in sein Haus in Gaza-Stadt zurückkehrte, stellte er fest, dass nicht nur sein Haus noch stand, sondern dass seine gesamte Familie darin auf ihn wartete.

Der 45-jährige Tareq Tabash, ein weiterer freigelassener Häftling, hatte 25 Jahre hinter Gittern verbracht, nachdem er im Februar 2001 von der israelischen Armee an einem Kontrollpunkt in Khan Younis festgenommen worden war. Er wurde wegen seiner angeblichen Beteiligung an der Tötung von zwei israelischen Soldaten zu lebenslanger Haft plus 15 Jahren verurteilt.

Vor fünf Jahren erlag seine Mutter einer Krankheit. Tabash durfte sie in ihren letzten Stunden nicht sehen und auch nicht an ihrer Beerdigung teilnehmen.

Trotz der strengen Beschränkungen war er entschlossen, während seiner Haftzeit eine Ausbildung zu absolvieren. Er schaffte die Matura, dann einen Bachelor-Abschluss in Geschichte und hatte begonnen, auf ein Aufbaustudium hinzuarbeiten – bis, wie er sagte, die israelischen Gefängnisbehörden nach Beginn des Krieges am 7. Oktober weitere Beschränkungen verhängten.

„Die Bedingungen im Gefängnis verschlechterten sich seit dem Krieg auf eine Weise, die sich nicht beschreiben lässt“, erzählt er +972 nach seiner Freilassung. „Folter und Bestrafung wurden zur Politik. Die Armee quälte uns, indem sie uns alles erzählte, was in Gaza geschah – den Völkermord, die große Zahl der Toten, die Hungersnot.“

„Sicherheitskontrollen waren eine der wichtigsten Formen der Folter, mit denen man uns erniedrigen und misshandeln wollte“, fährt Tabash fort. „Wir wurden gezwungen, niederzuknien, den Kopf zu senken und die Hände darauf zu legen. Die Wachen provozierten uns absichtlich und nutzten die kleinste Bewegung als Vorwand, um uns mit Stöcken und Gewehrkolben zu schlagen.“

„Uns wurden Lebensmittel, Getränke und Medikamente vorenthalten, selbst denjenigen mit chronischen Erkrankungen“, fügt er hinzu. „Wir erhielten keine Reinigungsmittel und Hygieneartikel und durften uns weder umziehen noch duschen. Die Gefängnisse waren überfüllt. Uns wurden unsere Habseligkeiten weggenommen und sogar die Möglichkeit, miteinander zu sprechen.“

Tabash forderte die internationale Gemeinschaft auf, dringend Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation in israelischen Gefängnissen zu verbessern und die noch inhaftierten Menschen zu retten. „Die Folter, die wir erlitten haben – psychisch, physisch und sozial – übersteigt alles, was man sich vorstellen kann.“

 

„Uns wurde alles genommen“

Wie Tabash und Abu Sidwa wurde auch der 30-jährige Raja Daghmeh, ein Einwohner der Stadt Abasan östlich von Khan Yunis, nach seiner Festnahme am 26. Januar 2024 an einem Militärkontrollpunkt während des israelischen Einmarsches in die Stadt schweren psychischen Folterungen ausgesetzt.

Daghmeh berichtet +972, dass ihm kurz vor seiner Freilassung ein Verhörbeamter im Negev-Gefängnis gedroht habe, ihn bei der ersten Gelegenheit zu töten, wenn er Gaza nicht mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter verlasse und ins Exil gehe.

„Während meiner gesamten Haft wurden uns alle Dinge vorenthalten, sogar Sonnenlicht“, sagte er und wiederholte damit die Berichte anderer Häftlinge. „Wir wurden ständig gefoltert: Shabeh, Knochenbrüche, schwere Schläge, Entzug von Nahrung und Wasser und Einschränkungen bei der Benutzung der Toilette. Wir durften einmal im Monat duschen, ohne unsere Kleidung zu wechseln. Im Winter bekamen wir keine Decken zum Wärmen. Wir rechneten damit, jeden Moment an den Folgen der Folter zu sterben.“

Unter den Menschenmassen, die sich vor dem Nasser-Krankenhaus versammelt hatten, befand sich auch der 39-jährige Mahmoud Mohsen aus dem Flüchtlingslager Khan Younis, der gekommen war, um die freigelassenen Gefangenen zu begrüßen. Im Gespräch mit +972 äußerte er seine Enttäuschung darüber, dass die Hamas die Unterzeichnung eines Waffenstillstandsabkommens verzögert hatte, das seiner Meinung nach „vielen Menschen in Gaza das Leben gerettet und den Gazastreifen vor weiterer Zerstörung von Gebäuden und Infrastruktur geschützt hätte“.

Mohsen bekräftigte jedoch, dass er der Meinung sei, die eigentliche Errungenschaft des aktuellen Abkommens sei nicht die Freilassung der Gefangenen selbst, sondern die Beendigung der israelischen Angriffe und des täglichen Blutvergießens.

Ismail Al-Thawabtah, Leiter des Medienbüros der Regierung in Gaza, teilte diese Ansicht, als er sich der Menschenmenge vor dem Krankenhaus anschloss. „Die einzige Errungenschaft ist derzeit die Beendigung des Völkermords“, sagte er. „Wir wollten nur, dass das Massenmorden und die Zerstörung unserer Städte aufhören, unabhängig von den Details des Abkommens.“

Der Sprecher der israelischen Streitkräfte ging nicht direkt auf die in dem Bericht genannten Vorwürfe ein, sondern verwies +972 an den israelischen Strafvollzugsdienst (IPS), der erklärte, dass er „in Übereinstimmung mit dem Gesetz und unter der Aufsicht offizieller Kontrollorgane arbeitet. Alle Insassen werden gemäß den gesetzlichen Verfahren festgehalten, und ihre Rechte, einschließlich des Zugangs zu medizinischer Versorgung und angemessenen Lebensbedingungen, werden von professionell geschultem Personal gewahrt. Die beschriebenen Behauptungen sind uns nicht bekannt, und nach unserem besten Wissen sind unter der Verantwortung des IPS keine derartigen Vorfälle vorgekommen.“

 

Ibtisam Mahdi ist eine freiberufliche Journalistin aus Gaza, die sich auf die Berichterstattung über soziale Themen, insbesondere über Frauen und Kinder, spezialisiert hat. Außerdem arbeitet sie mit feministischen Organisationen in Gaza im Bereich Berichterstattung und Kommunikation zusammen.


ree

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