Wir Israelis sind Teil einer Mafia-Verbrecherfamilie. Es ist unsere Aufgabe, sie von innen heraus zu bekämpfen
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- 8. Sept.
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Das kriminelle, verbrecherische, unverzeihliche Vernichtungsprojekt der Zerstörung Gazas ist ein rein israelisches Projekt. Es hätte ohne die Mitwirkung – sei es durch aktive Beteiligung oder durch Schweigen – aller Teile der jüdisch-israelischen Gesellschaft nicht stattfinden können.
Von Michael Sfard, Haaretz, 31. August 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
„Das ist meine Familie, Kay. Ich bin nicht so.“
Als Michael Corleone (perfekt gespielt von Al Pacino) Kay Adams (Diane Keaton) bei der Hochzeit seiner Schwester im ersten Teil der „Der Pate“-Trilogie seiner Familie vorstellt, erfährt sie eine sehr beunruhigende Geschichte über die Familie, in die sie einheiratet. Es scheint, dass die Familie Probleme durch eine Kombination aus Gewalt und Korruption löst. Als Michael bemerkt, dass Kay schockiert ist, versucht er sie zu beruhigen: „Das ist meine Familie, Kay, ich bin nicht so.“
Israel zerstört Gaza. Nennen Sie es ethnische Säuberung, nennen Sie es Vernichtung, nennen Sie es Völkermord, nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Raphael Lemkin, der jüdisch-polnische Jurist, der den Begriff „Völkermord” geprägt hat, mit Tränen der Scham erklären würde, dass der jüdische Staat in Gaza Völkermord begeht. Er zerstört den Ort und vernichtet die dort lebende Bevölkerungsgruppe.
Die physische Zerstörung der bebauten Umgebung Gazas erfolgt systematisch - Haus für Haus, öffentliches Gebäude für öffentliches Gebäude, Infrastruktur für Infrastruktur. Denken Sie an Ihre eigene Nachbarschaft - die Schule Ihrer Kinder, die örtliche Klinik, das Einkaufszentrum, den Spielplatz, den Park, die Bürogebäude und die Wohnblocks. Stellen Sie sich vor, all das, absolut alles, würde vernichtet werden. Keine Häuser, keine Nachbarschaft, keine Gemeinschaft. Das ist die Situation in Gaza.
Ein Ort, an dem über zwei Millionen Menschen lebten, ist zu einem riesigen Ground Zero geworden. Schulen, Kliniken, Geschäfte, Wasser-, Strom- und Abwasserinfrastruktur, Straßen und Gehwege - alles ist zu Asche und Staub zerfallen. Laut einer Analyse von Satellitenbildern sind 70 Prozent der Gebäude im Gazastreifen vollständig zerstört oder unbrauchbar beschädigt - und das noch bevor die nächsten Phasen der Offensive beginnen, bevor das Versprechen des Verteidigungsministers an die Rabbiner der religiösen zionistischen Bewegung, dass „Gaza wie Beit Hanoun aussehen wird“, umgesetzt wird.
Das Massenmorden an den Bewohner*innen Gazas ist chaotischer als die Zerstörung des physischen Raums: wahllose Erschießungen, unverhältnismäßige Bombardierungen, die Zerstörung des Gesundheitssystems und – schrecklicherweise – Hunger. Die absichtliche Herbeiführung einer von Menschen verursachten Hungersnot.
Die absichtliche, vorsätzliche Verhinderung der Einfuhr von Lebensmitteln und humanitärer Hilfe nach Gaza; die Zerschlagung des internationalen Hilfssystems, das an Hunderten von Stellen im gesamten Gazastreifen Hilfsgüter verteilt hatte, und dessen Ersatz durch nur vier Verteilungsstellen – drei im Süden und eine im Zentrum, keine im Norden –, um die Bewohner*innen Gazas zur Flucht zu zwingen. Wie Hunde, die mit einem Napf Futter aus dem Haus in den Hof geführt werden. Die Zahl der Hungernden ist unvorstellbar. Die Bilder sind erschütternd. Sie lassen einen den Atem stocken. Israel vernichtet den Gazastreifen.
Wie kann man also weiterleben als Teil einer Gemeinschaft, die Vernichtung betreibt? Wie wacht man morgens auf und schaut dem Lebensmittelhändler, der gerade aus dem Reservedienst zurückgekommen ist, dem Soldaten im Café oder dem Nachbarn, der ein Schild mit der Aufschrift „Gemeinsam werden wir gewinnen“ aufhängt, in die Augen?
Es ist am einfachsten, Ben-Gvir oder Smotrich anzusehen und zu denken, dass das nichts mit uns zu tun hat. Es ist am beruhigendsten, an diese beiden kleingeistigen Faschisten zu denken, die – anders als ihre italienischen oder deutschen Kolleg*innen – weder Klasse noch Ästhetik haben, sondern nur rohen Rassismus und sadistische Grausamkeit, und sich dann erleichtert zu fühlen. Es ist am einfachsten, Smotrich zu verspotten, wenn er poetisch darüber schwadroniert, wie moralisch es ist, zwei Millionen Menschen in Gaza hungern zu lassen, und wie akzeptabel es ist, die Geiseln zu opfern. Es ist am einfachsten, Ben-Gvir zu verhöhnen, der sich an der Idee der ethnischen Säuberung (die er als „Förderung der Migration” bezeichnet) ergötzt, und uns einzureden, dass dies nicht uns repräsentiert, dass wir nicht so sind.
Aber das kriminelle, verbrecherische, unverzeihliche Vernichtungsprojekt der Zerstörung Gazas ist ein rein israelisches Projekt. Es hätte ohne die Mitwirkung – sei es durch aktive Beteiligung oder durch Schweigen – aller Teile der jüdisch-israelischen Gesellschaft nicht stattfinden können. Die Regierung sicherte sich die Loyalität zu diesem Verbrechen bereits in den ersten Tagen des Krieges, als die Art des israelischen Angriffs auf Gaza festgelegt wurde: ein totaler Angriff auf alles, was zu Gaza gehört, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, sich ausschließlich auf militärische Ziele zu konzentrieren. Damals, als die Stimmen, die vor Kriegsverbrechen warnten, von den Kriegstrommeln übertönt wurden, wurden alle Teile der Gesellschaft zu Kompliz*innen dieses Verbrechens gemacht.
Wie Mafia-Rekrut*innen, die auf Befehl ihres Bosses einen Ladenbesitzer erschießen müssen, der kein Schutzgeld gezahlt hat, und damit einen Blutsbund – mit dem Blut eines anderen – mit der „Familie“ schließen, so folgten auch Hunderttausende Israelis dem Aufruf, zu bombardieren, zu vernichten, auszulöschen und auszuhungern. Hunderttausende, die direkt für die Vernichtung verantwortlich sind, und Millionen, die indirekt durch den kriminellen Pakt gebunden, zu dessen Leugnung verpflichtet sind und – wenn Leugnen nicht mehr möglich ist – zu dessen Rechtfertigung.
Heute gibt und kann es keinen Zweifel mehr daran geben, was in Gaza geschieht. Israel begeht Verbrechen gegen die Menschlichkeit in erschreckendem Ausmaß. Es zerstört jegliche Infrastruktur, die das Leben im Gazastreifen ermöglicht, und hungert seine Bevölkerung aus. Es erklärt offiziell seine Absicht, Gaza ethnisch zu säubern, oder, wie Netanjahu – der israelische Darth Vader, der sich vollständig der dunklen Seite der Macht verschrieben hat – es nennt, „Trumps Vision“ umzusetzen.
Und selbst jetzt, wo alles bereits klar ist, wo die Behauptung, dass wir Völkermord begehen, nur noch sehr schwer zu widerlegen ist, ziehen die Israelis insgesamt den Vorhang zu und gehen ihrem Alltag nach. Wohlgemerkt: Kein einziger israelischer Berufsverband wagt es, moralisch gegen die Vernichtung Gazas zu protestieren.
Weder die israelische Ärztekammer, die angesichts der systematischen Zerstörung des Gesundheitssystems in Gaza und der Tötung von mehr als 1 500 medizinischen Mitarbeiter*innen widerwärtig schweigt, noch die Lehrer*innenorganisationen, deren Schweigen angesichts der vollständigen Zerstörung des Bildungssystems in Gaza (Grund-, Sekundar- und Hochschulbildung) israelischen Schüler*innen beibringt, dass doch nicht alle Menschen nach Gottes Ebenbild geschaffen wurden.
Auch nicht die israelische Anwaltskammer, deren Vorsitzender die Verhaftung des Justizministers wegen des Austauschs der Schlösser in seinem Büro fordern kann, um den Generalstaatsanwalt zu demütigen, aber keinen Grund sieht, ein Wort über die Bevölkerungsumsiedlungs- und Aushungerungspläne der israelischen Regierung, über die Bombardierung der Gerichte in Gaza, über die Aushungerung und Misshandlung palästinensischer Gefangener in israelischen Gefängnissen, die zu Folterlagern geworden sind, oder über die widerwärtige Kollaboration des Obersten Gerichtshofs mit all dem zu verlieren.
Wie beschämend ist es, einer juristischen Vereinigung anzugehören, die sich für die Beibehaltung der „Angemessenheitsklausel“ einsetzt, aber nichts über die Pflicht sagt, humanitäre Hilfe für hungernde Zivilist*innen oder Besuche des Roten Kreuzes für feindliche Gefangene zuzulassen.
Was die israelischen Mainstream-Medien angeht, so ist es eigentlich Zeitverschwendung, über sie zu sprechen: über diejenigen, die sich „Journalist*innen” nennen und sich verschworen haben, nicht über das Leid zu berichten, das wir den Bewohner*innen Gazas zufügen - eine Verschwörung, die ein Berufsverbrechen darstellt; die monatelang die Flammen des Krieges geschürt und zur Anstiftung zu Verbrechen beigetragen haben; die nach wie vor verhindern, dass wirklich kritische Stimmen Gehör finden; und die zu dem systematischen Mord an Journalist*innen in Gaza und der Weigerung, Journalist*innen hineinzulassen, geschwiegen haben - außer, sie waren in die israelische Armee eingebettet, um den Lügen des Armeesprechers zu dienen. Die israelischen Medien sind das Lagerfeuer, in dessen Flammen Gaza verbrennt.
Man sucht sich seine Familie nicht aus, und Israel ist meine Familie. Und es ist eine kriminelle Familie. Wie soll man also mit einer solchen Familie weiterleben? Alles ist verseucht. Der Verfall hat alles verschlungen. Genau an dem Abend, als die Haaretz Dutzende Fotos von ausgemergelten Kindern in Gaza veröffentlichte – unser Werk –, strahlte Channel 13 News einen PR-Beitrag über die israelische Haute Cuisine und die Michelin-Sterne aus, die unsere Spitzenköche bald erhalten werden.
Michael Corleone glaubte, er könne Teil der Familie bleiben und gleichzeitig ein Leben außerhalb der Kriminalität führen. Am Ende übernahm er jedoch die Rolle seines Vaters und wurde zum Don der kriminellen Familienorganisation. Es gibt zwei Möglichkeiten, ein ähnliches Schicksal zu vermeiden. Die eine besteht darin, sich vollständig von der Familie zu trennen. Viele haben dies in den letzten zwei Jahren getan - sie haben das Land verlassen und sich in anderen Gesellschaften ein neues Leben aufgebaut. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit: gegen die Familie zu kämpfen. Wirklich zu kämpfen. Zu verstehen, dass die Familie in dieser Situation der Gegner ist.
Das Problem, ich erinnere Sie daran, sind nicht Ben-Gvir und Smotrich. Das Böse entspringt vielen Hochburgen des sogenannten „Liberalismus“ in unserer verzerrten israelischen Realität. Aber – und das ist entscheidend – es gibt auch rebellische Familienmitglieder. Lehrer*innen, Künstler*innen, Anwält*innen, Journalist*innen, Ärzt*innen, Sozialarbeiter*innen, Akademiker*innen und viele politische Aktivist*innen, die es gewagt haben, in Petitionen, Videos und Demonstrationen ihre Stimme gegen die Zerstörung Gazas zu erheben. Wir sind wenige, aber nicht unbedeutend.
Gemeinsam müssen wir unsere Familie mit allen möglichen gewaltfreien Mitteln bekämpfen. Folgen wir dem Weg Abrahams, der laut Midrasch die Götzenbilder seines Vaters zerschlug; dem Weg Moses, der gegen seine ägyptische Adoptivfamilie rebellierte, um ein Volk von Sklaven in die Freiheit zu führen; und dem Weg aller Propheten, die das sündige Volk und die verbrecherischen Könige zurechtwiesen. In der heutigen Sprache bedeutet das: Unterstützt diejenigen, die sich [dem Militärdienst] verweigern, ermutigt internationale Untersuchungen und fordert Sanktionen und politische Isolation. Was nicht durch den Verstand und das Herz geht, muss mit den Füßen durchgesetzt werden, um eine Insel menschlicher Werte zu bewahren und vor allem, um die Vernichtung Gazas zu stoppen.
Michael Sfard ist Rechtsanwalt mit Spezialisierung auf Menschenrechte und Kriegsrecht und Verfasser des hebräischsprachigen Buches „Besatzung von innen: Eine Reise zu den Wurzeln des Verfassungsstreichs“.




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