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Wir müssen unseren Kolleg*innen in Gaza zur Seite stehen – Ein Appell an die medizinische Gemeinschaft der USA

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  • vor 6 Tagen
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Von Dr. med. Feroze Sidhwa, M.P.H., Dr. med. Yasmeen Abu Fraiha, M.P.A., Dr. med. Akiva Leibowitz und Dr. med. Naftali Kaminski; The New England Journal of Medicine, 3. Oktober 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache und mit Anmeldung)

 



Du sollst nicht tatenlos zusehen, wenn das Blut deines Nächsten vergossen wird.

— Levitikus 19:16

 


Drei von uns haben kürzlich in Kriegsgebieten gearbeitet, aber die Reaktionen der amerikanischen medizinischen Fachwelt auf unsere Erfahrungen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Als Dr. Leibowitz und Dr. Abu Fraiha von der Behandlung von Zivilist*innen berichteten, die bei dem von der Hamas angeführten Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 verletzt worden waren, stießen ihre Schilderungen von Schussverletzungen, schweren Verbrennungen und komplexen Traumata auf Interesse und Mitgefühl. Als Dr. Sidhwa hingegen von seinen Erfahrungen berichtete, die er seit März 2024 bei zwei Freiwilligeneinsätzen im Gazastreifen gemacht hatte, stieß er oft auf Misstrauen oder Feindseligkeit.

In Gaza fand Sidhwa ein Gesundheitssystem vor, das durch Blockaden, Belagerungen und Angriffe auf Krankenhäuser, einen Mangel an Hilfsgütern und Ausrüstung sowie eine ständig tödlicher Gewalt ausgesetzte Belegschaft zerstört war. Zwischen seinen beiden Besuchen im Abstand von weniger als einem Jahr wurden mindestens sechs Krankenpfleger*innen und zwei Ärzte, mit denen er zusammengearbeitet hatte, bei israelischen Angriffen getötet. Viele weitere Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens wurden ohne Anklage festgenommen, ausgehungert und gefoltert.

Am 18. März 2025, während seines zweiten Besuchs, brach Israel mit einem überraschenden Luftangriff den Waffenstillstand und tötete innerhalb von zehn Minuten mehr als 400 Menschen. Von den Hunderten Verletzten kamen 221 in den Nasser Medical Complex, wo Sidhwa ehrenamtlich tätig war. Etwa die Hälfte der Schwerverletzten waren Kinder im Vorschulalter. Der Chirurg, der während dieses Ereignisses die Triage leitete, hatte seine Facharztausbildung erst vor knapp zwei Jahren abgeschlossen und davon sieben Monate in israelischer Haft verbracht. 45 Minuten nach Beginn des Ereignisses wurde ihm die Leiche seines Schwiegervaters übergeben. Nach einem kurzen Gebet kehrte er an seinen Arbeitsplatz zurück und arbeitete weitere 16 Stunden, bevor er zum Grab seines Schwiegervaters ging, um zu beten, und dann für die Nacht wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte.

Von den Kindern, die er an diesem Tag versorgt hat, muss Dr. Sidhwa immer wieder an die 5-jährige Sham und den 16-jährigen Ibrahim denken. Bei Sham führte er eine Thoraxdrainage und eine Milzentfernung durch. Trotz einer Schrapnellverletzung an der linken Gehirnhälfte sprach sie nach der Extubation schließlich und bat ihre Mutter um Eier und Saft. Ihre Mutter brach weinend auf dem Boden zusammen: Wo sollte sie in einem Land, das von Hungersnot heimgesucht war, solche Luxusgüter finden?

Bei Ibrahim führte Sidhwa wegen Schrapnellverletzungen am Rektum eine Loop-Kolostomie durch. Er erholte sich schnell. Als Sidhwa sich in seiner letzten Nacht im Krankenhaus auf den Weg zu Ibrahims Zimmer machte, bombardierte Israel das Zimmer, zerstörte die chirurgische Station der Männer und tötete Ibrahim und seinen Zimmergenossen, einen verwundeten 56-jährigen Mann, von dem Israel behauptete, er sei der Premierminister von Gaza. Israel griff das Krankenhaus später noch zweimal an und zerstörte dabei mehr als 50 Krankenhausbetten und tötete mindestens 23 Patient*innen, Journalist*innen sowie Gesundheits- und Rettungskräfte.

Als Sidhwa nach Hause zurückkehrte und von seinen Erfahrungen berichtete, stieß er nicht bei allen auf Verständnis. Ein Kollege sagte zu ihm: „Alles, was du dort gesehen hast, ist die eigene Schuld der Palästinenser*innen – sie wollen, dass ihre Kinder sterben.“ Nachdem er die Berichte von 65 freiwilligen Gesundheitshelfer*innen über gezielte tödliche Verletzungen palästinensischer Kinder veröffentlicht hatte, beschuldigten einige Ärzt*innen die Mediziner*innen öffentlich, „falsche oder irreführende Berichte“ zu verfassen und sogar „Blutverleumdungen“ zu verbreiten.

Die anhaltenden, von den USA unterstützten israelischen Angriffe auf Gaza stellen eine der schwersten und wahllosesten Anwendungen militärischer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung im 21. Jahrhundert dar. Palästinensische, israelische und internationale Wissenschaftler*innen und Intellektuelle, mehrere Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, darunter zuletzt Physicians for Human Rights Israel (PHRI) und eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen, kamen zu dem Schluss, dass Israels Handlungen mindestens Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Völkerrechts darstellen.

Nach Angaben des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten und des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden seit dem 7. Oktober 2023 mehr als 65.000 Palästinenser*innen getötet, darunter fast 20.000 Kinder. Laut Oxfam wurden im ersten Kriegsjahr in Gaza mehr Frauen und Kinder getötet als in irgendeinem anderen Konflikt. Die Kindersterblichkeitsrate pro Kopf ist im Krieg in Gaza 134-mal so hoch wie im Krieg in der Ukraine. Und mehrere Studien deuten darauf hin, dass diese Zahlen noch zu niedrig angesetzt sind.

Der Angriff auf das Gesundheitssystem in Gaza hat verheerende Folgen sowohl für das medizinische Personal als auch für die Patient*innen. Keine der Primärversorgungskliniken in Gaza ist voll funktionsfähig; 38 Prozent bieten nur teilweise Dienstleistungen an. Die Weltgesundheitsorganisation WHO berichtet, dass 94 Prozent der Krankenhäuser in Gaza schwer beschädigt oder zerstört wurden. Durch diese Angriffe kamen fast 1000 Patient*innen ums Leben, sowohl durch Gewalt als auch durch die Unterbrechung der medizinischen Versorgung. Der Nasser Medical Complex in Khan Younis, das einzige große Krankenhaus, das noch teilweise funktionsfähig ist, ist bereits weit über 300 Prozent ausgelastet und wird weiterhin täglich mit Dutzenden oder Hunderten von Trauma-Fällen überfordert. PHRI berichtet, dass mindestens 1580 Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens (fast ein Zehntel der Belegschaft) getötet wurden. Bis zum 18. September 2025 waren mindestens 301 Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens in Israel inhaftiert, alle ohne Anklage. Unter den Toten und Inhaftierten befinden sich die ranghöchsten Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen und Krankenhausleiter Gazas, wodurch sichergestellt ist, dass sich das medizinische System nicht erholen kann.

Die Einfuhr von medizinischer Ausrüstung wird weiterhin von den israelischen Streitkräften blockiert, sodass Einwegartikel wie Endotrachealtuben und Thoraxdrainagen trotz fehlender Sterilisationslösungen, Seife oder sauberem Wasser wiederverwendet werden müssen. Durch die Zerstörung des Gesundheitssystems in Gaza hat die Bevölkerung keinen Zugang mehr zu grundlegenden Dienstleistungen wie Routineimpfungen und sicheren Entbindungen, ganz zu schweigen von der notwendigen modernen Traumabehandlung und rekonstruktiven Chirurgie. Durch die Zerstörung des einzigen spezialisierten Krebskrankenhauses im März 2025 konnten 11 000 Patient*innen nicht mehr behandelt werden, von denen 338 inzwischen verstorben sind. Die Zahl der CT-Scanner in Gaza wurde von 19 auf 7 reduziert, die der MRT-Geräte auf null. Von den 1100 Patient*innen, die im Oktober 2023 eine Hämodialyse erhielten, sind weniger als 650 am Leben, nachdem 48 Prozent der Dialysegeräte in Gaza zerstört wurden. Forscher berichten, dass die Lebenserwartung in Gaza von 75,5 auf 40,6 Jahre gesunken ist.

Das Ausmaß der Zerstörung in Gaza ist überwältigend. Die israelische Zeitung Haaretz berichtet von der fast vollständigen Auslöschung der meisten Städte und Flüchtlingslager in Gaza, darunter Rafah, Jabalia, Beit Hanoun, Gaza-Stadt, Khan Younis und andere – eine Zerstörung, die die durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki verursachte Zerstörung übertrifft und weitaus umfangreicher ist als die in Aleppo, Mosul, Sarajevo und Kabul zusammen.

Die systematische Zerstörung der Infrastruktur hat zu der katastrophalen Hungersnot geführt, vor der internationale Organisationen seit langem gewarnt haben. Indem Israel vom 2. März bis zum 18. Mai 2025 Hilfslieferungen nach Gaza blockierte, setzte es Hunger als Kriegswaffe ein. Der absichtliche Zusammenbruch des Lebensmittelliefersystems und die Ersetzung von mehr als 400 Gemeinschaftsküchen durch vier militarisierte Lebensmittelverteilungszentren haben die Hungersnot verschärft und dazu geführt, dass täglich Dutzende Palästinenser*innen auf der Suche nach Lebensmitteln getötet wurden. Laut der Integrated Food Security Phase Classification sind fast alle Haushalte von Ernährungsunsicherheit betroffen, 30 Prozent sogar von einer katastrophalen Hungersnot. Bis zum 18. September wurden insgesamt 432 Todesfälle aufgrund von Unterernährung dokumentiert, davon 146 Kinder.

Trotz des Ausmaßes der Krise hat sich die amerikanische Ärzteschaft weitgehend zurückgehalten. Als Dr. Kaminski einer Ärztegruppe mitteilte, dass mehr als 600 israelische Gesundheitsfachkräfte einen Brief unterzeichnet haben, in dem sie gegen die gezielten Angriffe auf medizinisches Personal und Infrastruktur in Gaza protestierten, erhielt er eine offizielle Rüge, in der seine Botschaft als „politisch“ bezeichnet wurde. Kaminski wurde am Hadassah Mount Scopus Hospital in Jerusalem ausgebildet, wo sich eine Gedenkstätte für 74 Gesundheitsfachkräfte befindet, die im arabisch-israelischen Krieg 1948 ermordet wurden. Für ihn, wie für uns alle, ist medizinische Neutralität keine politische Frage. Es ist eine ethische und moralische Frage, die im Völkerrecht verankert ist.

Wir haben uns daher zusammengeschlossen, um die Aufmerksamkeit unserer medizinischen Fachkreise auf die palästinensischen Zeugenaussagen und das Ausmaß dieser von Menschen verursachten Katastrophe zu lenken. Wir sind uns der Befürchtung bewusst, dass Diskussionen über die Auswirkungen des Angriffs auf Gaza als „antisemitisch“ missverstanden werden könnten, aber der Schutz der medizinischen Neutralität und die Bewertung der Auswirkungen des Krieges auf die Gesundheit und das Überleben ganzer Bevölkerungsgruppen sind nicht antisemitisch. Im Gegenteil: Dies sind Verpflichtungen, die durch das Versagen der medizinischen Fachkreise während des Holocaust entstanden sind.

Die medizinischen Gesellschaften der USA und andere führende medizinische Persönlichkeiten und Organisationen haben nicht nur aufgrund ihrer beruflichen und ethischen Pflichten die Verpflichtung, auf diese Katastrophe zu reagieren. Sie sind auch gut positioniert, um solche Diskussionen zu fördern. Über die Einholung datengestützter Forschungsergebnisse hinaus können sie den Aussagen von Opfern und medizinischen Helfer*innen zuhören, ihnen Glauben schenken und ihnen Gehör verschaffen sowie moralische und ethische Erklärungen, Positionspapiere und Leitlinien veröffentlichen. Sie können die Lehren aus Gaza und anderen von Menschen verursachten Katastrophen in die medizinische Ausbildung und Fortbildung einfließen lassen.

Die amerikanische Ärzteschaft ist fachlich, politisch und wirtschaftlich sehr einflussreich, und mit dieser Macht geht Verantwortung einher. Angesichts der Zerstörung einer ganzen Gesellschaft, die größtenteils mit amerikanischen Waffen verursacht wurde, fordern wir die medizinischen Einrichtungen der USA auf, ihr Schweigen zu brechen und vier wesentliche und sofortige Veränderungen zu unterstützen: ungehinderter humanitärer Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser, Treibstoff, Strom, Unterkünften und allen anderen medizinischen und humanitären Hilfsgütern; ein Waffenstillstand, um diesen Zugang zu ermöglichen; uneingeschränkter Zugang für medizinisches Personal, Ausrüstung, Forschungsteams und humanitäre Organisationen zu allen Gebieten innerhalb des Gazastreifens; und die Freilassung aller inhaftierten medizinischen Mitarbeiter*innen und Geiseln, die von beiden Seiten festgehalten werden. Dies sind die Mindestanforderungen, um dem Völkerrecht – und der grundlegenden medizinischen Ethik – zu entsprechen.

Wir hoffen, dass die medizinischen Einrichtungen in den USA aufhören, Diskussionen über die Zerstörung in Gaza zu unterdrücken, weil die Opfer die „falschen” Menschen sind, und sich der Realität der Verwüstung einer Gesellschaft stellen. Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass wir weiterhin schweigen könnten.



ree

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